Knicklicht

Wenn du zwei Hosen hast verkauf eine und kauf dir mit dem Geld dieses Buch! Leseprobe weiter unten. 

Über das Buch

Ich habe mit Inspiration der Klimaproteste (#FFF) einen Roman geschrieben. Der auf unterhaltsame Art und Weise herausarbeitet was mit dem Klima passiert und was Untergangsvorstellungen aus Menschen machen kann. Ökoterrorismus, Drogenkonsum & revolutionärer Aufruhr lautet das Gebot der Stunde in Knicklicht. Ein wilde Mischung aus staatsgefährdender Handlungen, philosophischer Auseinandersetzung und auch eine sprechende Katze ist mit dabei.

What’s inside

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Klimawandel

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menschliche Abgründe

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sprechende Katze

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Dystopie

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Drogenkonsum

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staatsgefährdende Handlungen

Kapitel 1

 

Kalt fühlte sich der Lauf der Waffe an seiner Stirn an. Der Geruch von schwarzem Pfeffer lag in der Luft.

„Das macht doch keinen Sinn.“

Sie standen einsam auf dem Dach des Einkaufszentrums. 

„Ziel auf den Fuß, doch nicht auf die Stirn.“ 

„Schnauze!“, geiferte sie.  

In der Ferne hörte man, wie Helikopterblätter durch die Luft sägten. Es donnerte rhythmisch, das hatte etwas Beruhigendes. 

„Was hast du angerichtet?“ 

„Ich habe nichts angerichtet.“

„Hör auf damit.“ 

Kurz federte er mit den Knien. Sie kniff leicht die Augen zusammen. Die Spannung auf dem Abzug leicht erhöhend. 

„Du hast doch gesagt: Verantwortung.“

„Bedeutet die Fähigkeit, eine Antwort zu geben. In jeder Situation.“ 

„Meine Antwort ist, dass wir das durchziehen. Bis zum Schluss. Bis zum bitteren Ende. Ein halber Anschlag taugt doch nichts.“ 

„”Die ganzen Menschenleben sind dir egal? Wir reden hier von einer Kernschmelze.“ Er hatte sie noch nie so wütend gesehen. Sie krampfte richtig an der Waffe. 

Er federte abermals mit den Knien. 

„Du machst es ja doch nicht“, lächelte er und wandte sich von ihr ab. 

„Was soll das?“

„Was soll was?“ er machte drei Schritte und stand an der Fassade. Mit einem Ruck hüpfte er auf den Rand. 

„Nicht mal ein Warnschuss?“ Er schüttelte den Kopf. 

Die Rotoren des Helikopters schienen sich zu nähern. 

„Ahhhhhhhh …“, schrie sie. 

„Verdammte Scheiße, weißt du, wie viele Menschen deinetwegen sterben werden? Wir wollten einen Anschlag vortäuschen, VORTÄUSCHEN. Keine Kernschmelze durchziehen.“

In dem Hochhaus gegenüber ging ein Licht an. Noch eins. 

Er zündete sich eine Zigarette an. 

„Das ergibt doch keinen Sinn. Warum hast du das getan?“

„Ich mach es endgültig.“

„Nein.“

„Weißt du, warum ich keinen Bruder habe?“

„Ja.“

„Als die Soldaten mein Heimatdorf heimgesucht haben. Versteckten wir uns alle im Keller. Mein kleiner Bruder fing an zu schreien. Er war keine acht Monate.“

„Ja, ich weiß.“

„Meine Mutter hat ihm den Mund zugehalten.“

„Ja, und jetzt hältst du den Menschen den Mund zu. Du bist der Soldat geworden.“

„Sein Kopf lief blau an und er zappelte. Meine Mutter hat uns gerettet und ihn geopfert.“

„DU BIST JETZT DER SOLDAT!”, sagte sie nicht laut, aber tief nachdrücklicher mit Bestimmtheit in der Stimme. 

„Ich bin kein Soldat, ich tue das, was meine Mutter tat, ich halte vielen Menschen den Mund zu, damit die anderen atmen können.“ 

„Das ist alles?“

„Das ist alles!“

Kurz federte er mit den Knien. Er stand am Abgrund. „Mein Licht hat nicht sehr lange gebrannt, dafür sehr hell“, sagte er und sprang. 

Er hörte einen Schuss. 

„Na, was soll der schon bringen.“

Er fiel. 

Und fiel und fiel. Die Zeit stand still. Alles steht still. Wenn man nur möchte. Zeit ist wie ein Fluss. Wahrheit ist wie ein Fluss. In diesen letzten Augenblicken, lass mich Revue passieren lassen, was geschehen ist. Wie ich hierherkam und was ich getan habe und warum. Starten wir noch mal von vorne. Er klatsche durch das Glasfenster der Mall, das das Atrium helllichte. Alle Gebäude waren immer so brutal, nur die Mall war klassisch gebaut. Warum nur? Warum konnte er es nicht lassen? Letzte Sekunden. Evakuierung der Seele. 

 

Dunkel. 

 

Dunkel war. Es noch, als sein Wecker klingelte. Es waren Sommerferien und er durfte seinen Charakter bilden lassen, durch Arbeit. Wie sein Alter immer so schön sagte. Wer steht im Sommer denn noch vor der Sonne auf, das kann doch alles nicht wahr sein. Er glitt in die Hose und das T-Shirt. „Save The Earth“, prangte vor ihm mit großen Buchstaben. Den Planeten retten vor was? Vor wem? Dem Planeten wird es gut gehen. Rettet die Menschen, rettet sie vor sich selber. Vor sinnlosem Status-Signalisieren mit Dingen, die niemand braucht. Auf das Frühstück verzichtete er. Zumindest auf das konventionelle. Er ging an den Kühlschrank und holte einen Zuckerwürfel aus dem Gefrierfach. Er leckte mit der Zungenspitze daran und verstaute den Zuckerwürfel wieder im Kühlschrank. In diesem Haushalt merkt auch niemand nichts von irgendwas. Er goss sich noch einen Kaffee ein, so viel Zeit hatte er noch. Öffnete die Tür zur Veranda und trat hinaus. Sein Alter stand da. Am Auto, der Kofferraum war geöffnet und voller Orangen. Der Vater blickte auf und sagte: 

„Du kommst noch zu spät.“ 

„Vater, ich stehe jeden Morgen zur selben rechten Zeit auf und du sagst immer, dass ich zu spät bin.“

„Ja, trink erstmal deinen Kaffee aus.“

Vater zündete sich eine Zigarette an und warf ihm die Schachtel rüber. Er fing, wenn er auch etwas Kaffee verläpperte. Nun war der Kaffee in Bewegung, konzentrische Kreise. Er schaute wieder auf und sah seinen Vater an. Sein Vater hatte alt geheiratet. So ein Lebensguru hatte ihm eingebläut, bloß nicht vor 35 Jahren zu heiraten, da sei nämlich der sexuelle Marktwert von Männern am höchsten. Nicht aber, wenn das eigene Star-Start-up gerade den Bach runter geht. Man außer Schulden nichts vorzuweisen hat. Dann braucht man ein paar Jahre, bis man wieder auf den Beinen steht, und für Kinder ist man dann fast zu alt. So kam ihm das zumindest vor. Was wusste er aber schon. 

„Wie steht’s, mein Sohn?“

„Bin gerade aufgewacht.“

„Die Orangen sind heute richtig frisch, schau zu, dass du sie verkauft bekommst.“ 

„Ja, mach ich, Pa.“ 

Er steckte sich eine Zigarette in den Mund. Ließ die Schultern hängen und packte die Zigarette wieder in die Schachtel. Er rauchte ungern vor seinem Vater. Es war irgendwie nicht richtig. Wobei er so vieles tat, was nicht richtig war. Tugenden des Bürgertums. Der Petite Bourgeoisie nachzueifern und doch nur auf der Stelle zu treten. Sein Vater sah verloren aus. Er musste gleich los, auf den Bus, um ins Geschäft zu kommen. Vorher fuhren sie aber noch an den Stadtrand, Vater zog mit dem Bus weiter, und er würde den ganzen Tag in der Sonne lümmeln und Orangen verkaufen. Was ist das für ein Leben? 

„Los Pa, komm, lass uns aufbrechen.“ 

Sie fuhren still durch das Stadtviertel. Alles sah gleich aus. Alles brutal gebaut. Wie war das, schaffendes und raffendes Kapital? Was für ein Blödsinn. Die Reichen-Gegend, dort gab es überall Villen. Gebaut mit Stil und Geschmack. Hier wo sie wohnten wurde alles kurzerhand aus dem Boden gestampft. Der Beton schändete die Natur. Man fühlte sich förmlich klein, wenn man den Straßenzug entlangging. Grau in grau in grau in grau. Mehr war hier einfach nicht. Dabei war es mal so eine schöne Stadt gewesen. Sie waren schon auf der Höhe des Parkplatzes. Viele Busse aus Osteuropa brachten Wanderarbeiter hierher und machten halt, um sich bei der Tankstelle eine Erfrischung zu holen. Manchmal kauften sie Orangen bei ihm. Das war günstiger als die Tankstelle selber. Er steckte ihnen oft Flyer zu. „Mach kaputt, was euch kaputt macht.“ „Nieder mit dem Kapital.“ „Für eine lebenswerte Umwelt.“ Oft kam aber nur eine hochgezogene Augenbraue in Frage, dabei waren die Flyer vielsprachig. Es schien niemanden zu kümmern. Niemanden kümmerte hier noch irgendwas. Es war Endstation. Nicht für ihn, sondern für die Menschen. Klimawandel, sinkende Profitraten und versauernde Ozeane, all das würde sich noch mehr bemerkbar machen. 

„Ich hol’ dich dann gegen 18 Uhr.“

„Wirklich so spät?“

„Komm, es ist Freitag. Ich habe mehr gekauft, und wenn du nicht alles loswirst, müssen wir wieder wegschmeißen.“

„Ist gut, ich steh hier meinen Mann.“

Vater stieg aus und ging schnurstracks Richtung Bus. Er blieb sitzen und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Er war müde. Mehr noch als müde war er aber geschlagen. Sein Vater wusste nicht, dass er öfters einfach nur die Orangen in den Müllcontainer hinter der Tankstelle entsorgte. Geld macht er, indem er Trips verkaufte. Er war hier bekannt. Keine größeren Mengen, aber ja, genügend für Kids, die mit dem Bus in die Stadt kamen und auf dem Weg zu einem der Raves waren. Wen kümmerte es aber, dieses Schauspiel? Sein Vater war 68 und durfte noch arbeiten. Durfte, das Wort war ihm immer wichtig. Er hatte immer wieder unzählige Überstunden angesammelt. Ließ sich das Geld ausbezahlen und gründete ein Start-up, und noch eins und noch eins. Halt, sein Super-Start-up darf man nicht vergessen, das wurde sogar an der Börse gehandelt. Doch sein Buchhalter, dem er vertraut hat, hatte die Zahlen gefälscht. Sein Vater war leichtgläubig gewesen. Nicht nur mit dem Buchhalter, sondern auch mit der Geschäftsliteratur. Geschäftsliteratur ist der falsche Name, es sollte eigentlich Überlebens-Bias-Literatur heißen. Das wäre besser. Ehrlicher. Nicht jeder hat das Zeug zum Unternehmer, und kaum jemand, der es nicht hat, verdient genug. Der Weltmarkt kennt nur sinkende Profitraten. Es ist ein Mäuserennen bis nach ganz unten. Sollte er heute an den See fahren, schoss es ihm durch den Kopf.

„Mal wieder richtig baden gehen“, sagte er laut. 

Niemand antwortete. Ja, klar, mal wieder richtig, richtig was. Das Schwimmen munterte ihn neben dem Zuckerwürfel noch am meisten auf. Ein Scroborous landete auf der Windschutzscheibe. Er hasste diese Käfer mit ihren beiden Stoßzähnen. Die wetzte der Scroborous aneinander und flog wieder davon. Er stieg aus und ging um das Auto herum und öffnete den Kofferraum. Orangen, einfach nur ein Haufen Orangen. Ohne Netz oder Kiste, der Kofferraum war voll mit Orangen. Brauchte Vater das Geld so dringend? Er hatte nichts gesagt, und von seinem Ticket-Stand hatte er noch genug über. Hoffentlich würde Skarla ihn heute wieder besuchen kommen. Mit Skarla konnte man immer reden. Sie war eine von den Guten, hatte das Herz am rechten Fleck. Der Kofferraum stand offen. Er ging nach vorne und legte sich auf die Motorhaube mit dem Kopf auf die Frontscheibe. Zog eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Als er ausatmete, schloss er die Augen. Alles, was ich brauche, sind ein paar nützliche Idioten, die mir helfen. Oder bin ich der nützliche Idiot? Der nicht arbeiten will, sondern nur vom Ausbrechen träumt. Nein. Es ist diese ganze verkommene Welt. Was soll das. Sein Plan war gut. Er brauchte nur einen, vielleicht zwei, wenn es ganz schlecht läuft drei Sommer, und dann geht das schon. Da wäre der Faktor wieder drinnen. 

„Na, was geht?“, hörte er Skarla flöten. 

„Nicht viel, nicht viel. Ich gammel nur ein bisschen in der Sonne.“

„Viele Orangen hast du aber noch nicht verkauft. Der Kofferraum ist ganz voll. Hast du geschlafen?“

„Ich, nein, nicht wirklich. Ich habe gearbeitet. Kennst mich doch. Dienst ist Dienst.“

„Hey, du, viel Zeit habe ich eigentlich nicht. Ich wollte nur fragen, ob am Wochenende was geht?“

„Hast du kein Handy? Dafür kommst du extra her?“

„Nee, du, ich war joggen, fit sein. Das ist wichtig. Sonst kann man auch nicht tanzen. Nächste Woche ist Rave, schon vergessen?“

Er machte die Augen auf, da war niemand.

Er schaute links, er schaute rechts. Niemand war da. 

Was geschah hier? Hatte er doch zu viel am getränkten Zucker geleckt am Morgen? 

„Hier unten.“ Er schaute runter. 

Skarla hatte sich am Reifen angelehnt auf den Boden gesetzt. 

„Schon wieder Microdosing? Das tut dir nicht gut.“

„Es steigert die Intelligenz und ist gut für den Geist.“

„Ach komm, hör doch auf. Schneide dir mal ein Stückchen von den Rauchern ab. Die sagen einfach nur ja, wenn du ihnen mit Lungenkrebs kommst.“

„Wie meinst du?“

„Du redest dir da was zurecht, das Unsinn ist.“

„Davon abgesehen, wollen wir einen rauchen?“

„Nee, du, geh weg. Davon wird man verrückt und paranoid“, sagte er lachend. 

Skarla zog zweimal. Dreimal, und reichte ihm die Tüte. 

Er wedelte nur mit der Hand.

„Echt nicht. Macht nicht fit. Geh weg, muss heute noch Orangen verkaufen.“ 

„Ja, wie? Sind wir jetzt auf einmal gesund und voller Verantwortungsgefühl?“

„Fahrradfahren ist ungesund, aber einen rauchen geht klar?“

„Du weißt, dass wir beide dummes Zeug anstellen. Das System schläft nicht.“

„Ja, ich weiß, es soll den Schmerz klein halten.“

„Nein, es hält den Schmerz nicht klein, wir laufen weg. Wir brauchen eine gesunde Einstellung. Eine Form von Alles-Egalismus.“

„Alles-Egalismus.“

„Ja, Alles-Egalismus.“

„Sicher, dass du nicht rauchen willst?“

„Ja, komm, gib her.“

„Was soll es auch. Gib her.“

Skarla lachte und hielt ihm die Tüte vor die Nase.

Er zog hastig daran. Man sah, dass er nur halbherzig zu irgendwas nein sagen konnte. Er konnte seinem Vater nicht erzählen, dass er keine Orangen verkaufte. Er konnte nicht nein sagen zur Natur, die am Menschen zu Grunde ging. Er konnte nicht nein sagen, doch noch auf die Schule gegangen zu sein, um seinen Abschluss zu machen. Gut, sein Glück, dort hatte er Skarla kennengelernt. Sie kam aus gutem Hause, war aber ein Biest. Als vor ein paar Jahren wieder Pandemie war, war es so, als ob man sie einsperrte für all die Jugendsünden, die man nie aufgedeckt hat. Sie saßen nun in den Sommerferien hier, im letzten Jahr des Abschlusses nachholen. Er am Orangen verkaufen und sie wohlmeinend ihn am Stand besuchend. Ihr Elternhaus war ausgezeichnet. Mutter Ingenieur, Vater Ingenieur, Schlüsselkind, aber Wohlstand war vorhanden. Keine Werte vermittelt bekommen, außer das Goldschätzchen zu sein, das viel zu schnell aufwächst und das Auto der Eltern zu Schrott fährt. Die Eltern aber angesehen, Stadtrat und Planungsbüro, grüne Partei. Alles wie im Traum, der nur keiner war. Wurzellose neo-liberale Arbeitstiere mit einem Hauch von Gewissen für den Planeten. Ihre Partei diente auch nur dazu, für radikale ökologische Strömungen einen scheinbaren Anker in der Politik zu haben. Zu Deradikalisierung kam es doch noch immer, während der Planet an den Folgen des Klimawandels starb. Klar waren die Modelle oft falsch gewesen, der generelle Trend stimmte aber. Der Trend, ja, was für ein Trend nur. Er hat wieder eindeutig zu viel Kritik von seinem Vater im Kopf rumspuken, die Wissenschaft war sich einig. Nur die Wirrköpfe, die daran verdienten, und die, die zu dumm waren, es zu verstehen, folgten nicht. Wir hätten eine ökologische Kulturrevolution gebraucht, aber nicht heute, sondern vor Jahrzehnten. Es war jetzt fast zwei Jahrzehnte her, dass es Fridays for Future gegeben hatte. Drei Jahrzehnte, seit Al Gore seine Dokumentation über den Wandel herausbrachte. Niemand tat etwas. Niemand. Nicht mal Skarla und er. Sie saßen hier beisammen wie ein Haufen Elend, rauchend, an einem Sommertag, an dem die Luft mal wieder viel zu schwül war. Richtig schwanger von der Feuchtigkeit. Ein Klima, das man in den europäischen Breitengraden sonst nicht kannte. 

„Du bist mir ja eine Sau.“

„Du hast aufgeraucht, was soll das?“

„Ah, sorry, Skarla, ich war in Gedanken versunken, wieso hast du nichts gesagt?“ 

„Macht nichts, ich muss eh weiter. War auch in Gedanken versunken.“

„Was da drin, das gut?“

„Das von Tony.“

„Aber nicht dem Dicken, oder?“

„Ja.“

Sie stand auf, küsste zwei Finger und warf sie ihm zu. Sie joggte weiter. Wieso stand sie so früh auf, um ihn hier zu besuchen? Scheinbar wollte sie ihr Leben wirklich rumreißen. Gut, wer wollte das nicht, der dorthin ging. Zweiter Bildungsweg brauchte Biss. Den hatten die meisten nicht, die nur so in die Schule gingen. Nochmal umzudrehen und sich einzugestehen, dass es eben doch wichtig ist, was auf dem Papier steht. Zumindest im bürgerlichen Milieu. Das war wichtig, ein Papier, auf dem steht, dass du wer bist. Was kannst. Lange dasitzen und so tun, als ob man Ahnung hätte. Richtige Ahnung kommt nur mit der Praxis, und in der Praxis scheitern die meisten. Das Kapital spielt mit ihnen 4-D-Schach, es gibt immer größere Firmen, die den Einzelnen immer weiter ausquetschen. Fordismus im Endstadium, der Westen wird ärmer. Die dritte Welt blutet nach wie vor aus. Während der Planet vor die Hunde geht. Alles zerfällt, auch die Mona Lisa, aber was bringt das denn. Wir bauen und bauen und die Städte sehen aus wie eine Betonhölle. Nichts bleibt, nichts bleibt beständig, und doch bleibt alles gleich. 

„Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst, etwas zu verlieren“, sagte er. 

Nur zu wem? Klar war das wichtig, zu kämpfen, aber wie soll das ein Einzelner anstellen? So viele Jahre sind in das Land gestrichen und die Öko-Bewegung hatte kaum Fortschritte aufzuweisen. Immerzu bildete sich eine Elite heraus, immerzu ging diese Elite zu viele Kompromisse ein, wenn es darum ging, die Macht zu übernehmen und etwas zu verändern. Die Demokratie ist die schlechteste Regierungsform aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen. Sagte das Monster von Indien einmal. Churchill kann mir gestohlen bleiben. Die Öko-Bewegung kann mir gestohlen bleiben. Wir haben eine Selbstmordkultur herangezogen, sie wuchert überall. Alles wird immer schnell lieber. Bedarfssynchrone Produktion, oder wie man im Denglisch sagen würde „Just-In-Time-Production“. Trotz zweier Pandemien verzichten wir immer noch nicht auf immer längere Lieferketten. Während wir damit den Planeten ruinieren. 500 Kanäle hatte mal der Fernseher gehabt, bis wir auch Videostreaming-Dienste hatten. Die neuste Iteration der Unterhaltungssoftware war eine Künstliche Intelligenz, die mit Hilfe deiner Suchmaschinenverläufe und eines Psychogramms für dich persönlich zugeschnittene Animationen generierte. Zum Teil flach, aber auch zum Teil die Vervollkommnung der Kulturindustrie. So kolonialisieren nach und nach die Maschinen, die wir erschaffen hatten, unseren eigenen Verstand. Verlust der Mündigkeit inbegriffen, eigene Gedanken zu denken. So viel selbst-referenzierende Kulturgüter, die wie Fraktale in die scheinbare Unendlichkeit glitten. Kein Wunder, gab es kaum noch zivile Unruhen, wir erhielten unser perfektes Soma. Entkriminalisierung von Drogenkonsum und endlose Vergnügungsmöglichkeiten, nie war es einfacher, nach einem Sieben-Stunden-Tag zu entspannen und sich zu verlieren. Der Sieben-Stunden-Tag wurde damals von den Konservativen eingeführt, während der zweiten Pandemie. Die die Menschen genauso traf wie einst Corona. Zwar gab es unzählige Tote, aber viele waren auch indirekt an der Quarantäne zu Grunde gegangen. Seitdem war es um Entschleunigungspolitik geschehen. Niemand wollte mehr das erklärte Ziel von Negativ-Wachstum auch nur in den Mund nehmen. Mit einem Großereignis nimmt der Lauf der Zeit die ganze ideologische Vorarbeit mit sich fort und lässt den Menschen vergessen. Klar geht es auch umgekehrt. Klar kann es auch ein Katalysator sein, wenn ein Krieg ausbricht, eine Pandemie oder ein Erdbeben, ein Anschlag. Nur bildeten sich die Menschen immerzu ein, dass ihre fragile Welt stark gebaut ist und auf einem guten Fundament steht. Das Haus der Gesellschaft fing aber schon lange an zu verrotten. Im Niedergang währte man sich Jahrhunderte aus den verschiedensten Gründen. Nie war es aber wahrer gewesen. So viele falsche Mahner, und auf die Mahner von heute wollte keiner mehr hören. 

„Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst, etwas zu verlieren“, sagte er abermals. 

Das Lecken am LSD-getränkten Zuckerwürfel wühlte ihn auf. Es war immer so schwierig, richtiges Microdosing zu betreiben. Nur ein paar Mikrogramm reichten aus, 5 oder 15 µg. Oftmals bekam man aber mehr ab, als man dachte. Seine Gedanken rasten davon, glitten um Szenarien, die nur assoziativ verbunden waren. Baum, Apfel, Apfelbaum, Saft. Keine Logik, nur Gemeinsamkeiten. Der präfontale Kortex machte Urlaub, und der Rest des Gehirns, des Bewusstseins, trat einen Schritt vor. Die Aktivität im Geiste blieb auf demselben Level, nur verschiedene Bereiche des Gehirns arbeiteten jetzt verstärkt. Gaben ihm eine Vision um die andere. Das tierische Bewusstsein der Natur sprach mit ihm, gab Denkaufgaben. Denkaufgaben, die die Krönung der Natur sonst nie akzeptierte oder überhaupt zu Kenntnis nahm. Die Zeit schien langsamer zu vergehen. Die Bäume atmeten ein wenig mit. Die Verästelungen der Zweige regten sich und streckten sich rhythmisch ganz zart. Obwohl der Wind stillstand. Der Himmel war bis auf ein paar Wolken kaum bedeckt, und diese vereinzelten Wolken liefen ineinander und strahlten hin und wieder grelle Lichtpunkte aus. Die Punkte sogen die Farbe der Wolken auf, bis sie formlos waren und greller wurden. Ja, es war definitiv kein Microdosing, sondern eher etwas Macro gewesen. Wie sollte er heute damit den ganzen Tag hier verbringen? Der Rastplatz war viel zu geschäftig dafür. Gut, nicht speziell jetzt schon in den Morgenstunden, aber der Nachmittag und Mittag würde kein gutes Setting ergeben. Set und Setting, das Alpha und Omega der Tore der Wahrnehmung, die es zu hüten galt, wurden von ihm mal wieder mit Füßen getreten. Warum war er so? Warum waren die Menschen so? Immerzu ging es nur um das bisschen Überleben, ohne Weitsicht. Ohne Einsicht, ohne Plan. Selten stiegen die Menschen auf. Klar war der Aufstieg keine angenehme Rolltreppe, sondern ein steiniger Berg, den es zu erklimmen galt. Doch war es am Ende der einzige Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit und Trägheit.  

„Ich habe keine Angst, ich habe keine Angst, etwas zu verlieren“, sagte er noch einmal. Diesmal laut. 

Ein paar Dutzend Meter entfernt drehten sich zwei Fernfahrer herum, schauten kurz drein und versanken dann wieder in ihrem Gespräch. 

„Ja, genau ihr, solltet keine Angst haben, etwas zu verlieren“, entfuhr es ihm. Das war nicht gut. Sie hörten ihn nicht. Die Barriere aber zwischen Denken und Sprechen löste sich langsam in ihm auf. Er wollte das gedacht haben. Konnte man überhaupt etwas denken wollen? In der Schule auf dem zweiten Bildungsweg hatte er einen Vortrag über Achtsamkeit gehalten. Gedanken solle man passiv beobachten, Gedanken sind ein Fluss, der strömt und strömt, und du selber bist nur der Beobachter, nicht das Gedachte bist du, sondern du bist du. Achtsamkeit war aus dem Buddhismus entlehnt, und vor einigen Jahren gab es in der Geschäftsliteratur einen wahren Boom von Büchern, die Achtsamkeit als neue Säule der Firmengebäude verkauften. Wieder so ein Trend, aber diesmal gefiel er ihm. Er war auf jeden Fall besser als die Welle an Selbsthilfeliteratur über Selbstbewusstsein. Diese hatte eine ganze Generation verdorben, mit dem Gift des Narzissmus. Wobei eine ganze Generation zu verderben hochgestochen klingt. In jeder Generation gibt es die Fähnchen im Wind, die mitschwingen mit jedem dümmlichen Trend, den selbsterkorene Schafhirten ihren Schützlingen überstülpen. Öfter als nicht waren diese Trends furchtbar destruktiv, und oft waren es Wölfe und keine Hirten. Die Menschen farmen wie eine Ressource, von der man sich einfach bedienen kann. Die Frage ist nur, ob das, was man da im Kleinen sieht, nicht auch im größeren Stil generell passiert. Das Farmen der Menschen einbeziehen in Geschäftsprozesse, Design der Freizeitgestaltung und Micromanagement der Ein-Dimensionalität des Menschengeschlechts. Nur keine Aufstände, keine Demonstration, keine Auseinandersetzung. Nichts, kein Konflikt, nur Aspiration, das dümmlichste Schaf von allen zu sein. Während die selbsternannte Elite die Welt lenkt, ob nun auf den Abgrund zu oder nicht. Das Ganze hatte System. Das war nicht zufällig entstanden. Wenn man die alten Schriften las aus dem 20. Jahrhundert, wusste man genau, wer wen wie gepolt hatte. Dies alles war Inszenierung, alles war gekünstelt und anorganisch. Selbst Fridays for Future war durchdrungen von Elitenkontakten zu Bankern und Unternehmern, die günstige Subventionen abgreifen wollten. Die ja auch massig verteilt wurden und allesamt im Sande verliefen. Nicht alles an Geldern, aber viel zu viele Beratergehälter und ein Rückbesinnen auf Atomkraft war die Folge. Mit genügend PR-Agenturen hatte man eine Image-Kampagne veranstaltet, Geld war ja genügend vorhanden, und so hatte man kurzum die Einstellung der Bevölkerung geändert. Nuklearia e.V. war ein Kindergeburtstag dagegen. Mit Geld und ein paar Elitennetzwerken ließen sich eben viele Fahnen im Wind drehen und drehen und drehen. 

„Ich habe keine Angst …“, er hackte ab. 

„Nein, die habe ich nicht“, murmelte er vor sich her.

Er schaute auf dem Parkplatz hin und her. Die Gedanken rasten. Wirres Zeug zog ihm durch den Kopf. Ein paar Autos standen auf dem Parkplatz, alles während er innere Monologe führte. Er erklärte sich die Welt und die Welt erklärte sich ihm. Die Welt sollte sich bunter gestalten und ihre Farben nicht für sich behalten, sie sollte großartig abgeben und aufzeigen, wie schön sie sein kann. Doch irgendwie war er auf dem Gedanken der Selbstmordkultur hängen geblieben. Die Säulen der Brücke, die über den Fluss und Parkplatz verlief, gaben leicht nach und waberten wie in der Wüste vor und zurück. Als er auf den Fluss starrte, sah er ein paar Hitzeblasen aufsteigen. Sie waren schwarz und er schüttelte den Kopf. Doch die Schwärze blieb, halt, nein, etwas Weißes stieg auf und bildete einen Schlangenkopf. Dieser verschmolz zu einem menschenartigen Totenkopf, der allerdings ein Hirschgeweih hatte. Ein Arm um ein Schwert geklammert erschien und hielt das Schwert über den Kopf mit dem Geweih. 

„Geht nei“, sagte er leise, schüttelte den Kopf und zog sich eine Zigarette aus der Hemdtasche. Anscheinend war der Zuckerwürfel in Kombination mit dem Joint keine gute Idee gewesen. 

Der Rauch kräuselte sich um seine Nase und brannte in den Augen. Das Einatmen fiel ihm schwer. Sein Körper wehrte sich gegen die Blausäure. Generell wehrte er sich. LSD und die Klasse der Halluzinogene waren die einzigen Drogen, die nicht freigegeben waren. Zu gefährlich. Gefahr der Psychose und ungesund und all dergleichen waren die Verlautbarung. Dabei weiß doch jeder Halbstarke, dass das bisschen Göttlichkeit, das man erfahren konnte, wenn man sich auf die Reise eines Trips begab, eben nicht betäubend, sondern befreiend war. Der menschliche Geist verstummte nicht, er wurde wachgerüttelt. Er konnte wellenförmig einmal durchatmen und ausbrechen aus den einfachen Mustern der Psyche. Er hatte wieder ein bisschen Balance. Die abstrakten Gedanken um Prohibitionspolitik ließen sich viel einfacher hinwegspülen als der Schädel mit dem Geweih. 

„Ich habe Angst“, sagte er vor sich hin. 

Ja, langsam veränderte sich seine Wahrnehmung zunehmend. Er musste zuerst die Orangen loswerden. Er schlenderte zu einer der Säulen der Brücke hin. Dort sah er sein eigenes Graffiti: 

„Existence is exhausting.

Welcome to the Struggle.“ 

Passender hätte es nicht sein können. Er griff nach der Holzkiste, die an die Säule gelehnt war, und lief zurück zum Auto. Aus dem Kofferraum nahm er Orangen heraus, so viele, wie eben in die Kiste passten. Das waren ein paar Dutzend. Ehe er die letzte Orange in die Kiste legte, bis sie voll war. Streichelte er über eine Orange. Er spürte ein Kribbeln in seinen Fingern. Das Kribbeln zog durch seinen Arm hinauf auf seinen Kopf und lief dann den Rücken hinunter. Gänsehaut bildete sich an seinem Arm. Er schüttelte sich kurz und legte die Orange wieder in die Kiste. Er würde drei oder vier Mal, vielleicht fünf Mal laufen müssen. Ehe der Kofferraum leer war. Er hievte die Kiste hoch und ging auf die Tankstelle zu. Auf halbem Weg spürte er wieder ein Kribbeln, diesmal in beiden Händen. Er krampfte kurz, als das Kribbeln die Arme hochlief, und ging weiter. Am Hintereingang der Tankstelle angekommen, stand er etwa zehn Meter von dem Müllcontainer entfernt. Der Boden waberte besonders intensiv. Der Boden waberte überall ein bisschen, je nach Blick auch etwas mehr aber hier. Er begriff. Der Boden war übersät mit Maden. Die langsam vom Müllcontainer hinweg krochen. Das Leben findet eben einen Weg, ist widerspenstig und nistet sich überall ein. Er tat einen Schritt auf dem Madenteppich. Alle drei oder vier Zentimeter wand sich ein kleiner Körper auf dem Boden. Es knackte leicht beim Gehen. Am Container angekommen, stellte er die Kiste ab. Er musste würgen. Schlug schnell mit der Handrückseite auf das Schloss, das nicht aufspringen wollte. Von seinem Handrücken fiel eine Made zu Boden. Die ganze Containerwand war voll von Maden. Er schlug nochmal und der Container sprang auf und wirbelte ihm eine Made direkt ins Gesicht. In den Mund. Er speichelte sofort und spuckte. Einmal. Es bewegte sich noch immer im Mund. Zweimal, und als er fiebrig mit der Zunge den Mund absuchte, würgte er und hustete. Er nahm die Kiste mit den Orangen und schmiss sie in den Container. Nein, das war nicht gut, jetzt hatte er keine Kiste mehr, aber er wollte nur weg von dem Container und sprintete die zehn Meter aus dem Madenkreis hinaus, der sich um den Container ausgebreitet hatte. Ob eine Kreislaufwirtschaft auf solche Container verzichten konnte, schoss es ihm durch den Kopf. 

Er schaute auf die Zapfsäulen. Er wollte sich einen Schnaps kaufen, nicht dass die Made, die er beinahe verschluckt hätte, ihn noch krank machte. Wobei, das war wohl übertriebene Vorsicht, aber wer wusste das schon genau. Maden konnte man essen, man konnte Burger aus ihnen machen. Das waren aber spezielle Maden. Freilaufende Maden waren gefährlich. Nicht brandgefährlich, aber wie so ziemlich alles in der Natur, war jeder Körper, ob nun Reh oder Made, wiederum ein Schlachtfeld für Kleinstlebewesen, Mikroben, Bazillen und wie sie nicht alle hießen. Er schritt in schnellem Schritt auf die Tür der Tankstelle zu. Er ging hinein und schnurstracks an die Kasse, er kannte den Kassier nicht. Er nahm einen Vodka Looneykov aus dem Regal und stellte ihn auf den Tresen. 

„Guten Tag, Martin.“

Martin hob seinen Blick nicht von der der Zeitung. Faltete sie dann doch, stand auf und ging zur Kasse.

„Tag auch. Das macht neun Euro neunundneunzig.“

Er patsche schnell einen Zehner auf den Tresen, nahm direkt die Flasche, öffnete sie und trank einen Schluck. Seine Kehle zog sich zusammen, er drückte sich noch einen Schluck hinein und noch einen. Dann drehte er die Flasche wieder zu. 

Martin zog eine Augenbraue hoch: „Langsam, Junge, langsam. Wir haben zehn Uhr. Wenn du so weitermachst, machst du es nicht lange.“

„Ich habe eine Made verschluckt.“

„Haben wir wieder Maden im Container?“

„Nicht nur eine.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass du deine Orangen nicht mehr bei uns wegwerfen kannst. Mein Chef macht Stress wegen des Gewichts. Das weißt du.“

„Tut mir leid. Ich kann nur heute nicht fahren. Es war auch nur eine Kiste.“

„Es bringt auch nichts, wenn du mir was dafür zahlst. Wir haben Vorgaben, wie viel Müll wir produzieren dürfen. Kreislaufwirtschaftordnungsgesetz. Das müsstest du eigentlich doch wissen, du magst doch diesen Öko-Kram so.“

„Ach, Martin, hab dich nicht so. Kann ich dich auf eine Kippe einladen?“

„Sieh zu, dass du rauskommst, die ersten Busse kommen gleich. Lass uns nachher miteinander reden.“

„Ja, geht klar.“

Er schnappte sich die Flasche Vodka und lief zur Tür hinaus. Richtung Auto. Was hatte Martin gesagt, zehn Minuten? Nein, nicht Minuten, zehn Uhr. Wie war die Zeit so schnell vergangen? Ihm kamen die Stunden wie eine Ewigkeit vor. Vier Stunden bereits war er auf dem Parkplatz und hatte außer eine Kiste Orangen zu entsorgen, Schnaps zu trinken und einen zu rauchen nichts hinbekommen. Verdammte Nachdenksucht. Immer wieder mit den Gedanken Kreise ziehen von bereits eh Bekanntem. Er sollte mehr Bücher lesen. Das letzte Buch, das er gelesen hatte, war „Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie“, ein wirres Buch, in dem die Autoren nur wirres Zeug schrieben. Das Buch hatte ihn auch nicht weitergebracht, eher dazu inspiriert, einen Gang hochzuschalten. „Can Life Prevail“ von Linkola war gut gewesen, speziell das Kapitel darüber, wie Katzen nachhaltig die Vogellandschaft verschandeln. Der schnurrende Verräter zu Hause, der die Natur zugrunde richtet, nur weil der Mensch kein Sozialkapital mehr hat und zum Nichtalleinsein ein Tier in seine Gewalt nimmt. Doch mit dem Lesen hatte er es nicht so. Marx gelesen zu haben, schön und gut, er hat die Klassengesellschaft definiert, aber nur die Kalaschnikow hat sie gleichgemacht. Kapitalismus braucht Blut, um vorangetrieben zu werden, dafür brauchte man kein „Das Kapital“, kein Piketty oder Žižek. Keine Götter, keine Meister. Solidarität. Tradition verhindert Fortschritt. Damit gewann man. Das waren Sätze, kleine Memes, winzig genug, um den Geist von alleine zu bewegen, wozu brauchte man da ein paar hundert Seiten wirren Geschreibsels von Kritikern, die ja doch nur Klassenhass in Profit verwandelten, ohne der Revolution irgendwie dienlich zu sein. Männer von Worten, nein, Männer von Taten brauchen wir, und zwar verdammt viele. Anders wird das nichts, wir haben keine Jahrzehnte mehr, in denen man mühselig die Selbstmordkultur wegkritisiert, die sich gebildet hat. Ehe man im Kampf um kulturelle Hegemonie einen Schritt voran war. Verteilte ein wild gewordener Milliardär Gelder an die Kulturindustrie und an den industriellen Nichtregierungsorganisations-Komplex und zack, war man um Jahre zurück im Kampf für die Welt. Das war kein Leben, das war kein Kampf, das war nicht mal geordneter Rückzug, den die progressive Bewegung hier veranstaltete. 

Er legte sich wieder auf die Frontscheibe, den Vodka hatte er auf den Beifahrersitz gelegt, nachdem er noch einen Schluck genommen hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und starrte wieder auf die Wolken. Was tun? Fragte einst Lenin, und das frage ich heute wieder. Da fiel ihm ein, dass er auch seine Hände desinfizieren sollte, steckte sich die Zigarette in den Mund und kletterte runter vom Auto und goss sich Vodka über die Hände. Er rieb sie sich an der Hose sauber und nahm noch einen Schluck. Heute ist aber auch wieder mal ein Vollgastag, oder? Der Gedanke verwischte sich und zack, wieder rauf auf die Frontscheibe. Wo war er? Ah, Lenin. Da war er gewesen. Männer von Taten, nicht von Worten. Nur, was war er? Er wusste, dass man etwas tun musste, nur hatte er keinen Schimmer, wie. Gut, das war gelogen. Die Gesellschaft war wie eine Zwiebel aufgebaut. Schicht um Schicht brauchte man andere Netzwerke und Kompetenzen, um sozialen Wandel herbeiführen zu können. Was konnte er da schon mit seinem zweiten Bildungsweg anrichten? Er las zwar ein paar gute Bücher, ein paar schlechte hier und da, aber woher soll das Wissen kommen? Niemand schreibt dir auf, wie man einen Gramsci in Realität umsetzt. Gut, was wollte er auch, eine Schritt-für-Schritt-Anleitung? Ein paar Namen kannte er, Lenin, Gramsci, Deleuze, Guattari, Linkola und natürlich der einzig wahre Steven Best mit „Totale Befreiung: Eine Revolution für das 21. Jahrhundert“. 

„Was‘ da los?“, tönte Martin, der gerade angeschlendert kam. 

„Evakuierung der Seele, so wie jeden Freitag.“

„Nein, nicht schon wieder, Bubele. Das tut dir nicht gut.“

„Warum warst du denn so spießig in der Tanke?“

Er hatte ihn doch gekannt. Der Zuckerwürfel machte ihn ganz wirr.

„Wir hatten gerade Übergabe. Unsere Zeiten haben sich geändert. Der Chef hat noch den anderen die Leviten gelesen, während ich die Kasse bewacht habe.“

„Du bist mir ja einer, spurst vorm Chef rum wie noch was und sonst hängst du auch gern mit mir ab während der Arbeitszeit.“

„Ja, komm, Prioritäten setzen. Ich will meinen Job nicht verlieren. Du, weißt, wie es ist.“

„Nee, weiß ich nicht. Das wäre ein kleiner Akt des Widerstandes.“

„Du immer mit deinem Widerstand, werde doch endlich mal erwachsen.“

„Bin ich doch.“

„Ja, nein, du weißt, wie ich das mein.“

„Du kommst an mit Sprüchen wie ‚Gib mir die Müden, deine Armen. Deine geschundenen Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen. Niemand ist illegal.‘“

„Und wunderst dich dann, wenn alle davonlaufen.“

„Lass mich halt. Außerdem hast du das schön aufgesagt.“

„Dein Klassenbewusstsein scheint doch irgendwo vorhanden zu sein, wenn du dir den Spruch gemerkt hast.“

„Ja, klar, und ‚Faschismus muss nicht debattiert werden, sondern zerschlagen‘.“

„Oder ‚Wage zu kämpfen, wage zu gewinnen. Rebellion ist gerechtfertigt‘.“ 

„Ja, da geht doch was. Freut mich, dass du dir die Sprüche merkst.“

„Den hier finde ich am besten: ‚Lebe unter Sozialismus oder lerne unter Wasser zu leben. Kapitalismus kann die Klimakrise nicht verhindern.‘“ 

„Ja, komm, wo ist der Vodis?“

„Auf dem Beifahrersitz, es ist offen.“

Martin öffnete die Tür, warf den Vodka mit einer Hand in die Luft und fing ihn mit der anderen. „Hallo Leben!“, sagte er, während er die Flasche aufdrehte und einen kräftigen Schluck nahm. 

„Gib auch mal her“, sagte Franky, während er die eine Hand Richtung Flasche ausstreckte und mit der anderen aus seiner Hemdtasche eine Zigarette herausfischte. 

„Was ist der Plan?“ Martin rülpste. Sichtbar bewegte sich sein Adamsapfel und sein Hals krampfte ein wenig. Schnaps pur und Luft im Magen sind eine universal unangenehme Sache. 

„Wir müssen die Orangen loswerden.“

„Nehmen wir doch das Boot.“

„Was für ein Boot?“

„Weiß nicht, unten am Fluss, am Steg, lag ein Ruderboot. Zumindest gestern noch.“

„Das hört sich nach einem Plan an“, sagte Franky, während er seine Hände beobachtete. Seine Finger wurden länger und kürzer. Die Fingernägel verfärbten sich dunkel, dann runter, dann sahen sie wieder normal aus. 

Martin schaute Franky argwöhnisch an.

„Du fährst doch schon wieder Fahrrad.“

„Nein, gar nicht, also doch, schon, aber ich wollte Microdosing betreiben und irgendwie ist das schiefgegangen.“

„Wie schiefgegangen? Pipette, paar Tropfen.“

„Nee, hab auf einen Würfelzucker geträufelt. An dem ich immer wieder mit der Zungenspitze ein paar Zuckerkristalle abschlecke. Vielleicht war die Lösung nicht gut vermischt. Weiß auch nicht. Auf jeden Fall rödelt es bei mir ganz schön.“

„Ja, merkt man, merkt man. So wie du auf deine Hände starrst.“

„Schau mich mal an.“

„Ja, deine Pupillen sind auch etwas größer. Nicht zu groß, aber definitiv, bei der Sonne zu groß.“

„Komm, lass das Boot zum Auto tragen, die restlichen Orangen reinpacken und bisschen rudern. Das macht dich wieder fit.“

Martin nahm noch einen Schluck aus dem Vodka und deutete Richtung Steg. Sie liefen schweigend den kleinen Trampelpfad zum Steg hinunter und begutachteten das Boot. Es war ein Drei-Mann-Ruderboot. Martin packte sich eine Seite und zog es halb auf den Steg. Franky starrte auf das Wasser. Blasen stiegen wieder hinauf, schwarze und rote. 

„Hilfst du mir mal, immerhin geht es um deine Orangen.“

Franky schüttelte den Kopf und packte mit an. Gemeinsam trugen sie das Boot zum Auto. Auf halber Strecke hörten sie eine Katze schreien. 

„Warum schreit die Katze?“, fragte Martin. „Hat die nichts Besseres zu tun? Gott, hasse ich diesen Ort.“

„Oh, das ist einfach. Erstens, warum sollte die Katze nicht schreien? Zweitens, wenn du klug wärst, würdest du dasselbe tun.“

„Warum sollte ich denn schreien?“

Beide schnauften.

„Komm, lass kurz absetzen.“

„Also“, Franky holte tief Luft. „Denk einfach über meine Parolen und deinen Job nach. Du hast allen Grund, zu schreien.“

„Ach, komm, Franky, die Beziehung zu Großunternehmen ist dieselbe wie zu deinen Eltern, wenn du noch Zuhause wohnst.“

„Wie meinst du das?“

„Na, du bist abhängig, du bist angewiesen. Es gibt klare Regeln, und wenn du die befolgst, gibt‘s Lob und ein paar Scheiben Brot.“

„Manchmal muss man etwas zerstören, um etwas Besseres aufzubauen“, sagte Franky in gestochenen Ton. 

„Komm, pack wieder an. Du alter Revolutionär.“

Die Katze schrie noch einmal. Sie trugen das Boot zum Auto, tranken beide noch einen Schluck Vodka und fingen an, das Boot mit Orangen zu füllen.

„Hast du eigentlich noch ein Fahrrad?“, fragte Martin.

„Sicher doch. Im Handschuhfach, nimm dir ruhig eins raus. Ist ein ganzer Bogen. In der CD-Hülle von der Pixies wo ‚Losing my Mind‘ draufsteht.“

„Willst du auch noch eins?“

„Klar, wieso nicht“, sagte Franky. 

„Der Tag ist eh gelaufen. Mein Alter hat die Schlüssel dabei und ich lege ihm nur kurz einen Zettel hin, dass ich zu Skarla gegangen bin. Mit etwas Geld, da freut er sich.“

Franky hantierte mit der CD der Pixies umher. Bis er aus dem Albumsbeizettel den Bogen entdeckte. „Die CD heißt übrigens Surfer Rosa.“

„Was?“, fragte Franky, der eine Orange streichelte. 

„Surfer Rosa.“

„Nee, Silver Surfer.“

„Was?“

„Die verdammte CD heißt ‚Surfer Rosa‘, Mann, ich dachte, du bist ein Mann von Kultur.“

Martin brachte Franky seinen Pappen, der ihn eifrig im Mund zergehen ließ, und nahm selber zwei. 

„Nimm noch ein paar von den Knicklichtern mit.“

„Warum denn, es ist hell, wir haben, was weiß ich, elf Uhr oder so.“

„Knicklichter sind wichtig. Nimm halt nur zwei, eins für mich, eins für dich.“

„Ja, schon gut.“ Martin fummelte im Handschuhfach herum und nahm zwei Knicklichter heraus. 

Sie packten das Boot und liefen zurück zum Steg. Auf halber Strecke setzten sie wieder schnaufend ab. 

„Warum in aller Welt kaufst du eigentlich Vodka, wenn du den ganzen Sommer über Orangen verkaufst. Warum keinen Tequila?“

Franky schaute Martin verdutzt an.

„Wegen den Maden.“

„Wegen den Maden?“

„Wegen den Maden.“

„Soll ich noch schnell einen Tequila holen, ehe wir uns aufs Boot setzen?“

„Wie, aufs Boot setzen? Ich dachte, wir lassen die Orangen schwimmen.“

Beide packten wieder an und trugen das Boot zum Steg. 

„Schau mal, du Pappnase. Wir setzen uns jetzt einfach ins Boot und fahren den Fluss runter.“ 

„In den Industriepark?“, fragte Franky. 

„Ja, in den Industriepark.“

„,Ja dann hol noch einen Tequila.“ 

Martin ging sofort im Stechschritt los, Richtung Tankstelle. 

Franky starrte auf das Wasser. 

Da waren sie wieder, die Blasen. Das Wasser brodelte und brodelte und brodelte. Ein weißer Kopf ragte aus dem Wasser, war das ein Wal? Nein, das war kein Wal, es wand sich, Ringe wie das Michelinmännchen. Eine riesige Made stieg an die Oberfläche. Ein Vogel landete auf ihr und begann zu picken. Die Haut der Made brach auf und kleine Maden traten aus dem Körper der Riesenmade hervor. 

„Der ganz normale Wahnsinn“, flüsterte Franky. 

Da kam Martin zurück. Mit einer Flasche Axolotl Tequila. 

„Was los, Schnecke?“, fragte Martin. 

Franky deutete nur auf das Wasser und sagte: „Wahrheit ist wie ein Fluss, der still die Nacht durchströmt. Du magst vielleicht lachen, wenn ich revolutionär daherrede, Fakt ist aber, unsere Welt liegt im Sterben und wir tun nichts, wir schauen nur zu. Nein, schlimmer noch, wir treten auch noch nach und nach und nach. Wir lassen das, was wir anrichten, gar nicht an uns herankommen, weil wir sonst die Systemfrage stellen müssten. Dafür fehlt uns aber auch der Rahmen, es gibt keinen Gedankenrahmen in unserer Kultur. Alles geht nur auf schnell, schnell, schnell Arbeiten, dann Vergnügen. Schlafen. In das Albtraumrechteck schauen. Ob nun Computer, Handy oder TV, alles sind Albtraumrechtecke. Wir können dabei zuschauen, wie die Welt in Echtzeit zerfällt, und tun nichts. Wir müssen unser Geburtsrecht einfordern auf eine lebenswerte Umwelt. Auf Wasser, in dem man nicht krank wird, wenn man darin badet, und auf einen Sonnenuntergang, der nicht endlos bunt schimmert, weil zu viele Partikel in der Luft schweben.“

Während Franky seine Rede schwang, legte sich Martin in das Boot. Legte den Vodka beiseite und hatte die Tequilaflasche knacken lassen. Er nahm einen Schluck, und als Franky fertig war, reichte er ihm die Flasche. 

„Du hast doch nur keinen Bock, in den Hafen zu fahren. Das wird sicher lustig.“

„Mann, ich weiß nicht. Hier haben wir zumindest etwas Natur. Wenn wir nachher voll wie drei Seemänner im Hafen von der Hafenpolizei wegen Hausfriedensbruch verhaftet werden, ist das auch nicht spaßig.“

„Okay, ich war nicht ganz ehrlich zu dir. Tatsächlich will ich dir was zeigen im Hafen.“

„Was denn?“

„Ist eine Überraschung.“

„Also gut, wenn es dir so wichtig ist, im Giftwasser zu paddeln, bin ich natürlich dabei.“

Franky nahm im Boot Platz und warf ein paar Orangen hinaus. Als sie im Wasser aufschlugen, schwammen in den konzentrischen Kreisen ein paar Maden. Sie paddelten los. 

„Weißt du noch, wie wir in der alten Zementfabrik gespielt haben, als Kinder?“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2

Er war wieder 13. In den letzten drei Jahren war er achtmal umgezogen, wegen der Arbeit von Vater. Er hatte in der Schule wieder einmal Freunde gefunden. Das war einfach, wenn man sich danebenbenahm und die Autorität der Lehrer mit Füßen trat. Ein paar der Kinder ließen sich so beeindrucken. Es hatte etwas Starkes, Autorität zu missachten, zumindest strahlte es Stärke aus in den Augen von Irrlichtern. Andere wiederum fühlten sich gestört. Halbstarker von Gleichaltrigen genannt zu werden traf Franky. So vieles traf ihn aber, dass es zu Hause immer mindestens einmal laut wurde, wenn sich seine Eltern stritten. Meist wegen Geld, wegen ihm, wegen den Nachbarn. Ein Grund, eine Kleinigkeit fand sich immer. Vater trank in dieser Zeit auch zu viel. Seine Mutter schmiss die Rosen samt Vase an die Wand. Es tat weh. Die vielen kleinen Stiche. Die Streits, die Lautheit der Beschwerden der Lehrer. Doch seine Welt war wie ein Negativ-Bild. Dass es weh tat, merkte er erst Jahre später. Zu dieser Zeit spornte ihn Nachsitzen an. Es spornte ihn an, länger draußen zu bleiben, zu Hause, wenn Vater denn mal da war und nicht arbeiten, war er laut. Flucht irgendwohin, nur nicht im Hier und Jetzt. Die Zeit absitzen, bis man wirklich flüchten konnte. In eine Stadt auf einem hellen Hügel, mit Toren aus Gold. Nicht in der brutalistischen Betonhölle. Wenn er den erwischen würde, der den Trend des Brutalismus hervorbrachte, würde er seine Hände um seinen Hals schlingen und zudrücken. Es war ein Erniedrigungsritual, die Architektur so zu gestalten, dass der Mensch sich klein und elend vorkam. Biopolitik vom Feinsten, die den Willen des einzelnen nach Mehrdimensionalität ersticken sollte, noch bevor der Keim auf den Boden fiel. Die Feinheit, die Raffinesse der Betongüsse umschlang die Seele und grub sie ein in versiegelten Boden.  

Er war auf dem Weg zum Nachsitzen. Zwei Pflanzen und ein Feuerlöscher standen an der Seite der Treppe. Auf der anderen Seite der Treppe stand eine Glasvitrine. Einer der älteren Schüler, der anscheinend begabt war, durfte hier eine Fliege ausstellen, die aus Papier gebaut war. Nein, es war keine Fliege, es war eine Heuschrecke. Ein kleines Schild stand davor, auf dem stand Orthoptera, Klasse Insecta, Stamm Arthropoda, höhere Klassifizierung Panorthoptera. Sie war schwarz und fein säuberlich gebaut, in mühseliger Kleinarbeit. Die Flügel hatten kleine Blättchen, aufgeklebt, und über ihnen prangten Querverläufe. Die Adern des Flügels, hatten die Flügel der Heuschrecke Adern? Franky starrte eine Weile auf die Kunstaustellung. Wenn man das Ausstellung nennen konnte, es waren noch ein paar gemalte Bilder mit dabei. Auf dem einen sah man ein Waschbecken mit Wasser, das rosa eingefärbt war, und einem Arm, der die Hand ins Wasser tauchte. Der Handrücken war Richtung Abfluss, so, dass die Finger aus dem Wasser ragten. Die Handinnenfläche beherbergte aber einen kleinen flecken rosa Wasser. Das Waschbecken war grünlich oliv und hatte einen Doppelrand um die Wasserkuhle, die leicht eingesenkt war. Zwei weißliche Wasserhähne prangten über der Wasserkuhle. Sie waren nicht ganz sauber gemalt, vielleicht war es auch beabsichtigt. Am Rand lag noch eine Blume. Es war keine Rose, er kannte die Blumenart nicht, sie hatte aber sieben Blätter. Ein anderes Bild war ein schwarzer Mann, der eine Kokosnussschale auf dem Kopf trug. In die Kokosnuss waren kleine Nieten eingelassen, an denen Schlüssel hangen. Dem Mann fehlte ein Schneidezahn, das Bild war schwarz und weiß. Außerdem trug er ein Hemd, das wohl weiß war. Das dritte und letzte Bild der Ausstellung zeigte einen Frauenkopf, der aus einem Bällebad herausragte. Die Bälle waren aber nicht farbig, sondern alle silbergrau. Sie trug roten Lippenstift und ihre Zunge war herausgestreckt. Über ihrem Mund schwebte ein etwas kleinerer silberner Ball. Sie war wohl brünett, oder schwarzhaarig. In der schlecht beleuchteten Aula konnte Franky das nicht so ganz erkennen. Der Bildhintergrund war türkis und es schwebten noch vier weitere Bälle in der Luft. Wahrscheinlich war die Aufgabe gewesen, Raum deutlich zu machen, und die anderen hatten alle nur Bälle in verschiedener Tiefe in das Bild gemalt. Franky schaute auf die Uhr, er kam zu spät zum Nachsitzen. Er musste sich beeilen, sonst würden sie wohl bei seinen Eltern anrufen. Hier war die Schule doch relativ gnädig. Nachsitzen wegen Fehlverhaltens führte nicht automatisch zu einem Anruf bei den Eltern. Obwohl genau das sein Verhalten wohl noch am ehesten korrigiert hätte. Die Abwesenheit von Anrufen bei den Eltern lag wohl eher an der Zeit, die man zum Anrufen aufbringen musste, als an der Gnade der Lehrer. Was wusste er aber schon. Er stieg die Treppe hinauf. An der Betonwand war ein hölzernes Geländer montiert. An einigen Stellen konnte man noch blasse Kritzeleien sehen. An anderen Stellen waren jugendliche Weisheiten und Tags eingeritzt. „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“, prangte in krakeliger, fast runenhafter Schrift am Ende des Geländers. Er öffnete die Tür zum Westflügel. Der war in einem Nebengebäude, das mit einer Brücke mit dem Hauptgebäude verbunden war. Er genoss die frische Luft auf der Brücke, in der Schule war es immer so stickig. Die Lüftungsanlage wurde seit der Privatisierung des Hausmeisterdienstes nur noch selten gewartet, und einmal hatten er und Martin in die Lüftungsschächte Butter reingeworfen. Das war vor den letzten Ferien. Das stank nach einer Weile ziemlich. Als er die Tür zum Westflügel öffnete, stand bereits Herr Strobel an der Tür und schaute grimmig. Er war Anfang vierzig und alleinstehend. Auf einer Klassenfahrt sah man ihn mal mit einer Frau, aber keiner der Schüler wusste irgendwas über sein Privatleben. Erzählt wurde aber viel. 

„Du kommst zu spät.“ 

„Ja, Entschuldigung, Herr Strobel.“

„Dafür bleibst du eine halbe Stunde länger. Wir werden dir hier noch Disziplin einbläuen.“

„Ja, Herr Strobel.“

Der Lehrer reichte Franky ein Blatt mit seiner Aufgabe:

Schreiben Sie einen Aufsatz über Mut, Würde oder Verrat. 

 

Was sollte das für eine Aufgabe sein? Er musste etwas schreiben, also selber. Nicht einfach nur die Hausordnung abschreiben, sondern sich selber überlegen, was denn nun Mut, Würde oder Verrat sei. Okay, zumindest hatte er Optionen. 120 Minuten nachsitzen, alles für eine kleine Schlägerei. Dabei hatte der Junge aus der Klasse über ihm angefangen. Er hatte auch Nachsitzen kassiert, aber man zog es wohl vor, sie an unterschiedlichen Tagen zu bestrafen. Der Junge hatte ihm einen Kebab ins Gesicht geschmissen, daraufhin hatte Franky ihn an den Haaren gezogen und gegen eine Wand gedonnert. Wobei, was hieß gedonnert, so viel Kraft hatte er nicht aufbringen wollen. Zwar konnte man, was man an Schwäche hat, mit Brutalität wettmachen. Dennoch war der Kopf, der gegen den Beton rasselte, kein Spaß gewesen. Der Junge hatte geblutet und angefangen zu weinen. Blamiert vor all seinen Freunden, die ihn zum Glück nicht angegriffen haben, sondern ihren Kameraden auslachten. Klar hatte er eine große Klappe, er wusste aber nicht mal mehr, womit er sich den Kebabwurf verdient hatte. Wahrscheinlich war es eine kleine spaßig gemeinte Beleidigung gewesen, denn viel hatte er nicht mit dem Jungen zu tun. Er wusste ja nicht einmal mehr, wie er hieß. Was sollte das? Also erstens der Wurf und zweitens seine Bestrafung, er hatte nicht angefangen. Er hatte sich nur gewehrt, und wer kalibriert schon in der Wut seine Reaktion richtig? Das war vielleicht auch das Stichwort für den Aufsatz. Kalibrierung der Reaktion. Was ist angemessen zu tun? Herr Strobel warf ihm schon einen Blick zu. Angemessenheit der Taten, das war doch Würde. Oder war es das nicht? Sollte er lieber etwas Räudiges schreiben, im Sinne von Mut ist, eine Ehrverletzung hinzunehmen. Nicht zu reagieren, auch wenn man verletzt worden ist. Schließlich war es nur ein wenig Kebabsoße in seinem Gesicht gewesen. Jetzt hatte er eine Idee, er hatte doch neulich erst „Totale Befreiung: Eine Revolution für das 21. Jahrhundert“ gelesen, das großen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Er würde darüber schreiben, wie der Begriff der Würde ausgeweitet werden sollte auf Natur und Mensch. Der Klimawandel, von dem er schon in der Grundschule gehört hatte, könnte so gestoppt werden. Damals dachte er noch, dass sich die Erwachsenen ja um alles kümmern und sich ja so genau auskennen mit allem. Dass eben dieser Klimawandel kein Problem darstellt, weil die Erwachsenen Verantwortung tragen und sie wahrnehmen. Doch er hörte immer wieder vom Klimawandel. Jedes Mal stand in der Zeitung, dass er stattfindet, dass die Modelle korrigiert worden sind und dass die Politik zu träge sei, dass die Politik zu wenig tue. Was war nochmal Politik?

„Alle Maßnahmen, die sich auf die Führung einer Gemeinschaft, eines Staates beziehen“, hatte er erst neulich gelernt. Er fing an zu schreiben: 

 

 

 

„Über die Politik der Ausdehnung der Würde“

 

Das war eine gute Überschrift. Dachte er zumindest. Ob ihn Herr Strobel trotz Strafe für einen guten Aufsatz belohnen würde? Oder liest er den Aufsatz erst gar nicht? Vielleicht sollte er eine Drohung, dass er Amok laufen würde, irgendwo im Text unterbringen. Das würde ihm zwar weiteren Ärger einbringen, aber so wüsste er, ob Herr Strobel diesen bedeutenden Aufsatz, den er schreiben würde, auch ernst nahm. Schließlich waren die Erwachsenen nicht im Stande, eine Politik zu pflegen, die den Klimawandel aufhalten könnte. Eine Drohung würde da gut hineinpassen. 

„Schreibst du auch oder tagträumst du nur?“, sagte Herr Strobel. 

„Ich überlege nur, wie ich anfangen soll“, gab Franky kleinlaut zurück. 

„Wenn du nicht mindestens fünf Seiten schreibst, kommst du wieder und holst das nach. 120 Minuten sollten dafür reichen, aktuell hast du eine halbe Stunde verstreichen lassen, in der du genau – warte – sieben Worte zu Papier gebracht hast. Ausdehnung der Würde verwässert sie nur. Es mangelt ihr dann an Bedeutung. Trotzdem würde ich gerne sehen, was du schreibst.“

„Ja, Herr Strobel.“

Damit ging der Lehrer wieder nach vorne ans Pult. Er las das Handelsblatt. Eine der wenigen Zeitungen, die noch gedruckt wurden, für Menschen, die sich zu arg an das Papier gewöhnt hatten. Ausdehnung der Würde. Politik. Über die Politik. Was würde Steven Best schreiben? Er war ein Großer. Auch rief er zu Gewalt auf, was Franky gefiel. Er hatte dazu auch neulich erst einen Film gesehen. Wie ging noch das Zitat? Macht, nackte Gewalt, hat mehr in der Geschichte der Menschheit entschieden als jeder andere Faktor. Die gegenteilige Meinung, dass Gewalt niemals etwas entschieden habe, ist Wunschdenken im schlimmsten Fall. Naivität im besten. Rassen, die diese Grundwahrheit vergessen, zahlen stets mit ihrem Leben und ihren Freiheiten dafür. Darf man Rasse überhaupt sagen? Ist Menschen nicht richtiger? Würde Herr Best das so sagen? Er fing an zu schreiben: 

 

Die Maßnahmen, die darauf abzielen, unsere Gesellschaft und unseren Staat anständig in eine lebenswerte Zukunft zu führen. Führen nicht daran vorbei, den Begriff der Würde auszuweiten. Tiere, die sehr wohl Schmerz empfinden können, werden von uns wie Ressourcen behandelt, wie ein Stück Kohle, das man verheizen kann. In unserer Hybris, unserem absoluten Hochmut, uns als Krönung der Schöpfung zu bezeichnen. Ebneten wir den Weg, um mit Massentierhaltung das Klima nachhaltig zu verändern. Die Herabwürdigung der Tiere ermöglicht es uns, anstatt in Harmonie mit der Tierwelt zu leben, uns aufzuführen wie tollwütige Hunde. Raubbau an der Natur zu betreiben und dabei unsere eigene Lebensgrundlage zu zerstören. Die große Kette des Seins wurde schon lange zerbrochen. Wir sind nicht von einem allmächtigen Gott erschaffen worden, der uns Würde verliehen hat. Unsere Erde ist nicht der Mittelpunkt des Kosmos. Wir sind aus der Tierreihe hervorgegangen. Wir sind keine gefallenen Engel, die durch den Apfel vom Baum der Erkenntnis oder die Gesellschaft korrumpiert worden sind. Wir sind aufsteigende Biester, die nicht einmal Herr im eigenen Haus sind. Unser Unterbewusstsein zieht seine Bahnen durch unser Leben und bestimmt so viel von unserer Konsumlust, unserer Prestigelust, unserem Streben nach Dominanzhierarchie. Wir sind ein singender, tanzender Stern aus Abfall, der vergessen, hat, in Harmonie mit seinem Umfeld zu leben. Das Gebot der Stunde zur Rettung unserer Zukunft lehrt uns, dass, wenn wir das, was wir Würde nennen. Unsere innere Ehre, nicht die äußere Anerkennung. Wenn wir diese Würde nicht ausweiten auf das Tierreich, auf die Natur, wir an dem Baum sägen in der Umwelt, auf dem wir selber sitzen. Nicht dass wir den Planeten retten müssten, der wird auch nach uns noch existieren, bis die Sonne ihn verglühen lässt. Nein, um uns selbst am Kragen aus dem Sumpf der Co2-Emissionen zu ziehen. Um das Versauern der Ozeane aufzuhalten. Um die Wüstenbildung aus einst fruchtbarem Boden aufzuhalten. Müssen wir anerkennen, dass Würde ein universaler Begriff ist, der für alle Lebewesen, ob Pflanze oder Tier, gilt. Jedem Menschen, der sich diesem Ziel in den Weg stellt, soll die Würde genommen werden. Das Recht auf Menschsein verwirken diejenigen, die keine Universalwürde, welche Natur und Tier miteinschließt, akzeptierten wollen. Die Meinung, dass Gewalt keine Lösung sei, ist Sklavenmoral, die den Meister bettelnd bekniet, doch gnädig zu sein. Der Meister ist aber die geophysikalische Struktur, die uns vom Universum gegeben worden ist. Sie ist nicht verhandelbar, sie kennt keine Gnade, vor allem aber kennt sie keine Würde. Gnade denen gegenüber, die sich nicht fügen wollen, um unsere Klimaziele zu erreichen, wäre ein törichtes Unrecht. Die Erde ist sowieso überbevölkert. Konsumgesellschaft und Wachstumszwang heizen dieser Überbevölkerung noch mehr ein, so dass wir gar nicht anders können, als Radikalität an den Tag zu legen, um die besondere Bestimmung des Daseins einzulösen. Dasein versteht sich in irgendeiner Weise und Ausdrücklichkeit in seinem Sein. Diesem Seienden eignet, dass mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist. Wenn wir die Verantwortung unserer Existenz annehmen wollen, müssen wir handeln. Nicht übermorgen, nicht morgen, sondern heute. Die Auslöschung vieler kleiner Bewusstseine, vieler Daseins, kann nicht schnell genug vonstattengehen. Wir steuern sonst unweigerlich in einen neuen von Verteilungskämpfen und Wasserkriegen gekennzeichneten Faschismus zu, der das Leben der Menschen ruinieren wird auf eine Art und Weise, die das 20. Jahrhundert wie ein lächerliches Vorspiel aussehen lassen wird. Ausdehnung der Würde kann sie nicht verwässern. Das einzige, was die Würde verwässert, ist das verräterische Festhalten am Zentrismus um das Menschengeschlecht herum. Alles andere ist nicht verhandelbar, es gibt keine andere Lösung außer Deindustrialisierung, Entvölkerung und ein Regime der Nachhaltigkeit. Wenn dieses universale Gesetz nicht umgesetzt wird, wird die Geophysik uns umsetzen. Daher sind die Kränkungen der Menschheit um einen vierten Punkt zu erweitern. Die Kränkung, dass kein unendliches Wachstum auf einem endlichen Planten stattfinden kann. Solange die Kultur der Menschen dies nicht verarbeitet hat, werden wir Stück um Stück das verlieren, was wir Würde nennen. Das Herausbilden eben dieser Würde wurde mit so viel Blut begossen, dass es in den Wahnsinn mündet, nicht final anzuerkennen, dass der Mensch keinen Alleinanspruch auf das hat, was wir in unserem Dasein Würde nennen. Universalwürde oder Untergang, mehr ist da nicht, mehr war da nie. Nie zuvor war die Notwendigkeit zu Handeln größer, nie zuvor waren so viele Menschen feige, zurückhaltend und passiv. Nie zuvor war es so einfach, die Namen und Adressen der Minister und Firmenchefs, die am Ausstoß der Umweltgifte maßgeblich beteiligt sind, festzustellen und sie für vogelfrei zu erklären. Nie zuvor war es wichtiger, radikal zu sein im Denken und Handeln. Menschen aller Herren Länder, vereinigt euch, ihr habt nichts zu verlieren außer eurer Würde, außer euren Ketten, außer eurer Knechtschaft. Ein Unrecht irgendwo bedroht das Recht überall, und an tausenden von Stellen in unseren Gesellschaften und Staaten werden die Gesetze der Geophysik mit Füßen getreten. Das Einzige, was uns noch bleibt, ist Universalwürde, um im Einklang von Harmonie mit Umwelt und den Tieren zusammenzuleben. Würde für alle oder Würde für keinen. So und nicht anders wird der Lauf der Geschichte entschieden. Handelt. Handelt jetzt. Ein Morgen gibt es sonst nicht, und die Zukunft wird leise dahinsterben mit jedem Tag an Passivität, Debattiererei und Maßregelung, den Ton zu mäßigen, den wir anstimmen, um alle Menschen davon zu überzeugen, dass es nur Würde geben kann, wenn Ochs und Esel, Baum und Korallenriff ebenso viele Rechte haben wie Hans und Otto, Gerda und Lisa. 

 

Franky gab den Text ab, und als Herr Strobel fertig war zu lesen. Schaute er auf und sagte nur: „Du grün lackierter Faschist.“

Seine ganze Miene verfinsterte sich schon während des Lesens und er schüttelte öfters den Kopf. 

„Nicht nur wimmelt der Text von Grammatik- und Rechtschreibfehlern, es mangelt ihm auch an grundlegendem Respekt gegenüber deinen Mitmenschen. Was soll das? Was hast du dir dabei gedacht?“

„Ich wollte nur …“ Franky wurde unterbrochen. 

„Sei still, du Großmaul, über Schüler wie dich rege ich mich schon lange nicht mehr auf. Sowas wie du kommt dabei heraus, wenn die konservative Gesellschaft Progressiven den Lehrplan überlasst. Das ist ein hasserfüllter 1933-Text, und du solltest dich schämen, so etwas geschrieben zu haben. In deinem Alter ist das im Kopf noch nicht ganz entwickelt, was sich Empathie nennt, genau das trieft aus deinem Text. Empathielosigkeit, mangelnder Respekt gegenüber dem Leben. Gegenüber den Menschen. Den Leidensweg, den die Menschheit gegangen ist, um eine friedliche Gesellschaft zu erbauen. Junge, ich sage dir, dir fehlt Gott in deinem Leben. Ohne Gott kann man Würde nicht begründen. Sie wurde dem Menschen gegeben, von unserem Schöpfer, dem All-Heiligen. Du hast Skalvenmoral als Wort verwendet, Nietzsche hat nicht stolz verkündet, dass Gott tot ist. Er hat den Horror des 20. Jahrhunderts vorhergesagt, und als Analyseansatz hatte er den Tod Gottes. Du solltest dir mal ‚Also sprach Zarathustra‘ durchlesen. Zweiter Teil, nicht vom Gesindel, nicht von den berühmten Weisen, sondern von der Tarantel anschauen. Ich sage dir, das wird Folgen haben. Ideen haben Konsequenzen, Worte haben Konsequenzen. Du bist eine dieser Taranteln, dieser falschen Priester der Gleichheit. Das hier geht gar nicht. Geh jetzt und denk darüber nach, was du geschrieben hast. Den Text behalte ich.“

Franky drehte sich um und ging mit einem Lächeln zur Tür hinaus. Ja, sein Ton war pathetisch, ja, der Text war überzogen. 

„Halt“, dröhnte es von hinten. 

„Lerne bitte ‚von den Taranteln‘ auswendig und sage es nächsten Freitag vor der Klasse auf. Wenn du den Text gut vorträgst, sehe ich davon ab, das hier weiterzuleiten.“

„Aber sicher doch, Herr Strobel“, sagte Franky ohne Lächeln, als er sich umdrehte. „Danke, Herr Strobel“, sagte er kleinlaut und ging rückwärts die Tür hinaus. 

Als er die Tür schloss, kicherte er vor sich hin. Er kannte den Text. Er liebte Nietzsche, er hasste Konservative. Noch mehr hasste er aber Konservative, die glaubten, Nietzsche verstanden zu haben. Er wusste nicht viel von der Welt, die paar Bücher, die er las, die brachten ihm aber auch in seinem jungen Alter Weitsicht ein, die kaum ein Erwachsener verstand oder gar würdigte. Konservatismus ist Progressismus mit Tempolimit. Was er geschrieben hatte, war radikal, aber nur für die Avantgarde gedacht. Mit jedem weiteren Kreis in einer Bewegung würde die Botschaft verwässert, damit auch alle kleinen Fische mitschwimmen könnten. So sehr die Konservativen sich auch sträubten, sie waren nur das Tempolimit-Schild. Die Geschichte kennt eine Kraft, die stetig ihren Lauf nimmt, du kannst auf der richtigen Seite stehen oder auf der falschen, aber die Geschichte nimmt ihren Lauf. Daran konnte auch kein Herr Strobel etwas ändern. Sowieso würde er den Text weiterleiten. Das sah ihm ähnlich, er machte immer nur auf freundlich, das war aber stets zweckgebunden. Strategische Freundlichkeit statt aufrichtige Ehrlichkeit. Das taten so viele Erwachsene. Moralische Heuchler. Die Welt stand in Flammen, und wenn man einmal einen Text schreibt, der die Karten auf den Tisch legt, nässen sich die Erwachsenen sein. War es denn seine Schuld, dass die Erwachsenen keine Einigung fanden in dem bestimmenden Problem des 21. Jahrhunderts? Er dachte an Greta, wie sie einst sagte: „wie könnt ihr es wagen?“ Wie es verpuffte ohne Effekt. Was dachten sie denn, was kommt? Mehr Friedlichkeit bei einem immer weiter lodernden Brand in der Umwelt? Nein, Herr Strobel erdreistete sich sogar dazu, zu sagen, man solle mehr Gott und weniger Klimawandel den Kindern beibringen. Zahnloser alter Mann, wenn er den Text wirklich nicht weiterreichte. Er sollte auf Freitag einen Schulstreik inszenieren, so wie damals Fridays For Future. Das hätte was. Franky, der junge Revolutionär. Doch was dachte er sich da, Greta wurde damals gescoutet von Nichtregierungsorganisationen. Publiziert, unterstützt, von den Eltern in Szene gesetzt. Die Geschichte war bekannt. Elitennetzwerke hatten damals Subventionen abgegriffen, finanzielle Unterstützung vom Staat. Um dann am Ende keine grüne Energiewende, sondern ein Umschwenken auf Atomkraft einzuleiten. Er wusste das alles, statt Hausaufgaben zu machen las er lieber Zeitung. Die Zeitung, die sein Vater aus Nostalgie noch abonniert hatte. Vielleicht nahm ihn Herr Strobel auch nicht ernst. Nahm er sich selber ernst? Er wusste es nicht. Doch, eigentlich schon, aber irgendwie auch nicht. Er trank eigentlich lieber Bier mit Martin. Das machte mehr Spaß als an der Weltenmaschine der Gesellschaft herumzubauen. Wieso sich einmischen? Wenn einer ehrlich ist und sagt, was er denkt, bekommt er doch nur Ärger. Moderation, Moderation, Moderation. Das wurde uns in der Schule immer eingebläut. Das Schulsystem stammt noch aus den Zeiten Preußens, und das merkte man. Damals wurden Schulen gebaut und vollgestopft, um Soldaten, um Kanonenfutter zu produzieren, das nicht zu dumm war, ordentlich in Formation zu laufen, und Kriegsgerät bedienen konnte. Niemand kümmerte sich um das Individuum, auch wenn das eigentlich Staatsdoktrin war. War es das? Liberalismus nennt man das doch eigentlich. Beigebracht wird einem aber, in einem Fabrikgelage wie am Band Informationen aufzunehmen, um später besser einen Beruf zu finden. Nicht um zu lernen. Jeder besonders kluge und jeder besonders schwache Schüler fiel durch das Raster. Mittelmäßigkeit und Moderation war alles, was vermittelt wurde. 

„Ich bin all das nicht“, sagte Franky vor sich her. Er hatte auf einer Bank, die in der Mitte der Brücke zwischen Hauptflügel und Westflügel stand, Platz genommen. 

„ch bin nicht mittelmäßig, ich bin mal begabt, mal Windei. Außerdem bin ich radikal. Die Dinge an der Wurzel packen, ganz oder gar nicht“, flüsterte er vor sich hin. 

Dieser dämliche Herr Strobel, selbst in der Bibel stand doch, dass ein Dämon auf die Erde kommen wird und alle Menschen verschlingen wird. Doch die Heißen und die Kalten wird er wieder ausspucken, nur die lauwarmen wird er hinunterschlucken. Er hatte das letzte Kapitel der Bibel gelesen. Die Offenbarung, der Rest interessierte ihn nicht. Das erste Mal, als Gott in der Bibel erschien, schaute jemand, er wusste nicht mehr, wer. Irgend so ein Heino auf einen Berg und sah Gott. Der Berg spuckte Feuer bei Nacht und Rauch am Tag aus. Was, wenn nicht ein Vulkan soll das denn bitte gewesen sein? Vor 2000 Jahren, als die Menschen nichts wussten, wäre ich auch ehrfürchtig gewesen, wenn ich einen Vulkan gesehen hätte. Dieser Heino ist dann den Berg hinaufgeklettert, hat Dämpfe eingeatmet und hatte Halluzinationen. So entstand Religion, oder zumindest das Christentum. So saß er da, in Gedanken versunken. 

„Bist du mit dem Fahrrad da?“, fragte Martin. Während im Hintergrund die Tür zum Hauptflügel mit einem lauten Rumms ins Schloss glitt. 

„Klar bin ich, wie abgemacht.“ Franky lächelte. 

„Haben sie dir das Bier verkauft?“ 

Martin deutete mit Daumen nach hinten auf seinen Rucksack:

„Klar doch, den Schülerausweis zu fälschen war eine super Idee.“

„Teufelsbock?“, fragte Franky.

„Teufelsbock!“, sagte Martin. 

„Also los.“ Schnurstracks gingen sie los, die Brücke hinunter. Durch die Tür des Hauptflügels, die Treppe hinunter. An der kleinen Kunstaustellung vorbei hinaus aus dem Haupteingang zu den Fahrrädern. Sie radelten los, es waren vielleicht 15 oder 16 Kilometer bis zur Zementfabrik. Hier gingen sie immer hin. Sie schwiegen eine Weile. Dann fragte Franky:

„Kommt Nikolai auch?“

„Ja, Nikolai und Benny.“ 

„Bist du dir bei Benny sicher, der wirkt so brav. Nicht dass er uns nachher verpfeift.“

„Benny ist in Ordnung, mach dir keinen Kopf.“ 

„Wie war eigentlich das Nachsitzen?“ 

„Ich musste einen Aufsatz schreiben und habe mich, glaube ich, noch mehr in die Scheiße geritten.“

„Warum denn das? Brauchst du denn noch mehr Ärger? Nachher nehmen dich deine Eltern noch von der Schule.“ 

„Ach die, das kümmert die doch kaum. Vater arbeitet und Mutter, weiß nicht, was die macht.“

„Ja, komm, erzähl, was hast du geschrieben, dass es Ärger gab?“ 

„Ich habe dir doch von Steven Best und seinem Buch erzählt: ‚Totale Befreiung: Eine Revolution für das 21. Jahrhundert‘.“

„Ja, hast du.“ 

„Und wir haben doch neulich diesen Film geschaut, der mit den Käfern und den Soldaten.“

„Ja, haben wir, ‚Starship Troopers‘ hieß der. Mann, ich dachte, wenn ich einen verbotenen Film besorge, könntest du dich zumindest an den Titel erinnern.“ 

„Auf jeden Fall habe ich eine Mischung aus Best und Starship Troopers über Universalwürde geschrieben.“

„Universalwürde?“

„Ach, komm schon, dass die Würde ausgeweitet wird auf Tiere.“

„Verstehe. Also eigentlich nicht, aber ja, verstehe.“

„Mann, stell dich nicht so an.“

„Ich habe einen revolutionären Text geschrieben, gegen Klimawandel, für Tierwohl.“

„Beim Strobel? Du weißt doch, dass er Konservativ ist, die ganzen anderen Lehrer sind politisch ganz gut drauf. Progressiv und so.“ 

„Ja, ich wollte es halt wissen. Du kennst mich doch.“

„Bin mir manchmal nicht sicher, ob das gut oder schlecht ist.“ 

„Schau mal, da vorne.“ 

Eine Gruppe von Demonstranten, die allesamt Froschmasken aufhatten, wurde auf dem Vorplatz der Mall von martialisch daherkommenden Polizisten eingekreist. Es waren vielleicht 20 Demonstranten. Auf einem der Schilder stand: „Versammlungsfreiheit ist Grundrecht“. auf einem anderen: „Freies Reden ist das Leben selbst.“  

„Was da los?“

„Sollen wir anhalten?“

„Nein, nicht mit dem Bier im Rucksack.“ 

„Schau nur, die Polizisten, die haben alle Schilder und Schlagstöcke. Die sehen aus wie Power Rangers. Schienbeinschutz, Schutz an den Armen und am Oberkörper. Schwarze Masken. Keine Erkennungsmerkmale.“

Kurz bevor die nächste Häuserwand die Sicht verdeckte, trat Franky in die Bremse. Ein Polizist, der etwas abseits stand, hatte eine Tränengasgranate geworfen. Martin stieg auch in die Bremse, sichtbar beunruhigt. Schließlich hatte er den Rucksack voller Starkbier. 

„Komm, lass uns das anschauen.“ 

„Warum denn? Du weißt doch, wie das ist. Demonstrationen sind mit dem Moderationserlass verboten worden. Es ist illegal, sich zu versammeln, um politischen Willen auszudrücken. Es gab damals immer wieder Ausschreitungen, auch bei Fridays for Future, als die meisten Schüler zu Halbstarken aufgewachsen waren.“

„Selber Halbstarker, die hatten wenigstens Mut.“ 

„Ach ja, und den hast du etwa auch?“

Die Polizei prügelte einfach auf die Demonstranten ein. Wahllos. Er musste wieder an den Spruch mit der nackten Gewalt denken und dass sie am Ende der einzige Faktor ist, der bestimmend ist. Etwa 20 Meter von ihnen entfernt feuerte ein Passant die Polizisten an. Roter Kopf, wie ein Geschäftsmann gekleidet, brüllte er in Richtung vierer Polizisten, die einen Demonstranten wegeskortierten: „Brecht ihm den Arm, brecht ihm den Arm!“ 

Franky schaute zu Martin: „Das muss die Moderation sein, von der man immer so viel hört.“

An einem Seiteneingang kamen plötzlich noch mehr Demonstranten hinzu, es waren vielleicht ein Dutzend, die Polizei war immer noch mehr. Es folgten zwei Molotov-Cocktails, ein dritter und ein vierter. Zwei brennende Polizisten rannten in Richtung Brunnen, der vor Mall stand. Die gesamte Stadt war brutalistisch gebaut, nur der Brunnen und die Mall waren im klassischen Stil. Die beiden Polizisten gingen baden. Einer der Brandsätze hatte ein Polizeiauto getroffen. Es brannte. Doch nur oberflächlich, alle Polizeiautos waren schwer gepanzert. Seitdem Deutschland einen neuen Begriff eingeführt hatte, nämlich Sicherheitspolitik, und wieder Kriegseinsätze führte, gab es eine Flut an Kriegsgerät für die Polizei. Altes Militärspielzeug wurde an die Polizei verteilt. Sicherheitspolitik hieß nur Krieg um Ressourcen, und Deutschland war zurück auf der Weltbühne der Geopolitik. Das war natürlich kein Verbrechen, ein Aufsatz über radikalen Umweltschutz sollte aber Konsequenzen haben. Demonstrationen waren auch verboten. Militär in die „freie Welt“ zu schicken war aber sanktionierte Politik, Sicherheitspolitik, wie sie zu sagen pflegten. 

Zwei, drei, vier Kastenwägen rollten an und Polizisten stürmten heraus. Die Demonstranten waren jetzt vier zu eins unterlegen. 

„Komm, lass weiterziehen, hier knallt es gleich noch, wenn das so weitergeht.“ 

„Ja, besser ist das“, sagte Franky. 

Sie fuhren weiter. Sie schwiegen eine Weile. 

„Weißt du eigentlich, wie es zum Moderationserlass kam?“ 

„Weiß nicht genau, mein Vater meinte, dass das irgendwann mal von Brüssel aus beschlossen wurde. EU-Recht überschreibt ja bekanntlich nationales Recht. Es gab damals wohl große Widerstände, die aber relativ zügig von einer Verschärfung des Moderationserlasses niedergeschlagen wurden. Das war kurz nach der der zweiten Pandemie. Die Rechte waren sowieso schon ausgehöhlt um, den Virus einzuschränken. Viele Progressive forderten ein härteres Vorgehen gegenüber Faschisten. Damals nannte man sie noch Populisten oder Rechts-Populisten. Hast du mit deinen Eltern nie darüber geredet?“

„Ach, du weißt doch, wie das ist, die Erwachsenen reden nicht so gerne darüber. Ich habe ein paar Mal gefragt und das wurde weggewedelt.“ 

Sie waren jetzt fast am Stadtrand, es war nicht mehr weit bis zur Zementfabrik. Der Stadtrand war grau betoniert. Mit einer hochfahrbaren Stadtmauer. Wir waren in einer Küstenstadt. Der Meeresspiegel würde steigen. Deswegen hatte damals die Koalition aus Konservativen und Grünen, die auch den Moderationserlass durchgeboxt hat, die Mauer gebaut. Sie war hochfahrbar. Nicht nur Wasser konnte man mit ihr kontrollieren, sondern auch Menschen. Als vor ein paar Jahren Unruhen waren und die Menschen auf die Straße strömten, wurde die Stadt kurzerhand abgeriegelt. Niemand durfte mehr rein und raus. Es gab dann Massenverhaftungen und darauffolgende Zwangsumsiedlungen. Viele verließen die Stadt und es wurden Flüchtlinge aufgenommen. Nordafrika war seit Jahrzehnten Krisenregion. Auf den arabischen Frühling folgte ein ewig währender Winter. Flüchtlinge gab es also genug, die wurden mit mehr oder minderem Erfolg schnell eingelernt und ersetzten die Menschen, die wegen der Aufstände zwangsumgesiedelt wurden. 

Als sie die Mauer erreichten, stand sie etwa einen halben Meter aus dem Boden hervor. Sie stiegen ab und hievten ihre Fahrräder auf die Mauer. Auf der anderen Seite ging es nur etwa 15 Zentimeter hinunter und ein Betonmeer ergoss sich. Ein Gebilde, das leicht an die Form der Sphinx in Ägypten erinnerte, lag zu ihrer Rechten. Nur war da kein Kopf, sondern quadratische Vierecke, 20 Meter hoch mit fünf Meter Hohlraum, dann noch mal 20 Meter. Drei Abstufungen und ein dicker 40 bis 50 Meter dicker „Kopf“ lag oben auf. Die Füße der Sphinx waren einfach nur ein langgezogenes Betonrechteck. Niemand wusste so genau, was es mit diesem Gebäude auf sich hatte. Wenn man aber nah genug an die Sphinx herantrat, hörte man ein Kreischen. Wie von einer Maschine, die mit Schreien angetrieben wurde.  Versorgt wurde die Einrichtung wahrscheinlich unterirdisch. 

„Sollen wir jetzt schon ein Bier trinken?“

„Ja, warum eigentlich nicht?“ Die beiden setzten sich. 

„Nikolai und Benny werden sich wundern, wo wir bleiben, aber ein Bier geht schon rein.“

Sie ließen die beiden Flaschen aufplatzen. Kronkorken flogen durch die Luft. Obwohl die beiden erst 13 waren, konnten sie geschickt Flaschen mit einem Feuerzeug aufmachen. 

„Würdest du demonstrieren gehen?“, fragte Martin. 

„Weiß nicht, für was denn?“, gab Franky zurück.

„Ja, jetzt komm. Ist keine Stunde her, dass du dir eventuell die Zukunft verbaut hast für Umweltpolitik oder Universalwürde, wie du das nennst.“ 

„Ja, aber den Text habe ich doch nur geschrieben, um anzuecken.“ 

„Aber wieso? Wieso willst du anecken?“ 

„Ist einfach so ein Trieb.“ 

„Trieb, wie ein Tier. Dir ist doch die Umweltpolitik egal.“ 

„Nein, ist sie nicht. Der Klimawandel findet statt und niemand tut etwas. Wir führen sogar noch Krieg, um aktiv mehr Ressourcen in den Kapitalismus einzuführen.“

„Nein, das glaub ich dir nicht. Das ist Sicherheitspolitik. Du weißt doch selber, wie es auf der Welt zugeht. Du kommst selber aus Marokko.“ 

„Was soll das heißen? Wir sind so oft umgezogen, ich weiß nicht mal, ob …“

„Ich glaube, du strebst nur nach Größe.“

„Größe?“

„Um der Größe willen, ohne Sinn, Zweck und Verstand. Danach sieht es zumindest aus. Der Nichtigkeit wegen verbockst du dir das in der Schule. Wie ein Rebell ohne Grund.“

Franky nahm einen großen Doppelschluck aus der Flasche Starkbier. Drei Viertel waren leer. Er rülpste.

„Trink auf, Martin.“ 

„Lenk nicht ab. Du bist mein Freund, und man muss sich als Freund auch sagen können, wenn was nicht stimmt.“

„Geiferst du dem Moderationserlass nach?“ 

„Nein, gar nicht. Der Erlass ist nervig, aber Moderation an sich ist nichts Schlechtes. Sie bringt dich weiter. Nur übertreiben es die Erwachsenen damit etwas.“ 

Martin begann das Bier zu exen. Nach der Hälfte war ihm sichtlich unwohl, aber er zog es durch. Es war leer. Er würgte ein wenig, aber erbrach nicht. 

„Da hast du es“, sagte er mit zarter Stimme, die vermuten ließ, dass er gleich brechen musste. 

Franky lachte laut. 

„Aha, so sieht also bei dir Moderation aus.“ Er fischte in seiner Hosentasche nach einem Kaugummi und reichte ihn Martin. Der nahm ihn dankend an und kaute eifrig auf dem Fruchtgummi-Geschmack herum.

„Der Kaugummi hat mich gerettet.“ 

„Ich weiß. Komm, lass weiterradeln.“ 

Sie stiegen auf die Fahrräder und zogen weiter. Die Flaschen ließen sie stehen. Die Sonne stand noch relativ hoch für die Uhrzeit, als sie an der Zementfabrik ankamen. Sie fuhren direkt zum Hauptgebäude, hier war früher die Verwaltung gewesen. Es war eine Pyramide mit abgeschnittener Spitze, auf jeder Seite war ein rissiger Kreis, in dem noch ein kleiner Kreis war. Daneben Lüftungsschächte, die aus der Pyramide herausragten. Auf der abgesägten Spitze stand alle paar Meter ein Funkmast. Die Pyramide war ziemlich groß. In das Haupttor hätten locker vier Zehntonner gepasst. Hinter der Pyramide schmückte die Landschaft die richtige Fabrik. Schornsteine, runde Tanks, in die Tonnen von Material passte. Überall waren Zäune, aber überall waren auch Löcher in den Zäunen. Rechts am Tor standen zwei Fahrräder. Benny und Nikolai waren wahrscheinlich schon reingegangen. Sie waren ja auch zu spät. Weit und breit war keine Menschenseele, auch war ihnen schon vor Erreichen der Stadtmauer niemand begegnet. Es war zwar nicht verboten, die Stadt zu verlassen, aber Erwachsene taten es nie. Es war sicherlich illegal, auf das Gelände der Zementfabrik zu gehen, noch illegaler in eines der Gebäude. Dennoch war dieser Ort bei der einen oder anderen Kinderbande beliebt. Jugendliche gingen lieber in Bars oder das Technodrom. Wie die größte Disko in der Stadt hieß. Dort passten 5000 Menschen hinein und sie war jeden Tag in der Woche gut besucht, wenn sie auch nur am Wochenende ganz ausgelastet war. Der Moderationserlass hatte viele psychotrope Substanzen freigegeben. Es war Teil der Sicherheitspolitik gewesen, Opium, Hanf und Kokainplantagen in die Legalität zu überführen. Da sie im Laufe des 21. Jahrhunderts ein immer wichtigerer Faktor der Finanzierung von Terror- und Rebellengruppen geworden waren. Dazu noch eine Plethora an chemischen Substanzen.

„Hallo, ist da wer?“, rief Franky. 

„Hallo, hallo, hallo, ist da wer, wer, wer“, hallte es zurück. 

Nichts. 

Dann ein lautes, kräftiges: „Hallo, Gentlemen!“ 

„Das war Nikolai“, sagte Martin. 

Martin und Franky rannten los, die Bierflaschen klirrten im Rucksack. Als die beiden den Eingang erreichten, trat Franky fest gegen die Metalltür, die in das große Eingangstor eingelassen war. Die Tür bewegte sich kaum. Ging dann aber knatschend auf. Frankys Bein tat weh. Die Türe wurde wohl von innen aufgemacht. Wie er nur den Sicherheitsmechanismus vergessen konnte. Sicherheitspolitik und Moderation schienen alles zu durchdringen. Sein Leben. Die Schule und den Lehrplan. Die Pläne der Stadtarchitektur. Alles war darauf ausgelegt, das aufsteigende Biest zu besänftigen. Benny und Nikolai standen nun vor Martin und Franky. 

„Lasst die Spiele beginnen“, rief Franky und hob einen Stein auf, den er durch die bereits halb eingefallene Scheibe des Empfangs donnerte. 

Benny schaute ein wenig eingeschüchtert, fragte aber: „Habt ihr das Bier bekommen?“ 

„Besser noch, Bier und Zigarren“, gab Martin zum Besten. 

„Von Zigarren hast du mir gar nichts gesagt“, sagte Franky bestürzt und schubste Martin ein wenig. Der nahm seinen Rucksack ab und verteilte an jeden einen Flasche Bier, während er sagte:

„Wir haben vorher schon eins getrunken, deswegen ex und hopp, ihr beiden!“ 

Benny und Nikolai schauten sich an, Franky öffnete sein Bier und reichte es Benny. Benny gab sein ungeöffnetes zu Franky zurück und der wiederholte das Spiel mit Nikolai. Benny und Nikolai folgten artig und setzen beide an und zogen das Bier in einem Ansetzen hinunter. Franky verteilte Kaugummis, während die beiden würgten. 

„Gentlemen“, sagte Martin. „Wir spielen erst Blinde Kuh und danach gehen wir aufs Dach und rauchen dort Zigarre.“ Die drei anderen nickten zustimmend. Nikolai war zur Wand neben der Tür gelaufen, als das Tor endete, war da nur noch der Putz an der Wand. Er haute mit der Flasche gegen den Putz und sah stolz darauf, als er ein paar Dellen hinterlassen hatte. Benny hatte einen Reifen gefunden und rollte ihn durch die Vorhalle, in der auch der Empfang war. Als Martin und Franky leer getrunken hatten, holte Martin ein Tuch aus dem Rucksack und band es Franky um die Augen. In den oberen Stockwerken konnte man das Spiel nicht wirklich spielen, da immer wieder Löcher im Boden waren, die zum Teil drei, vier, gar fünf Stockwerke nach unten durchgingen. Ein Sturz wäre vielleicht aus dem dritten nicht fatal, aber man würde einen ordentlichen Schaden erleiden. Ein Notarztwagen hätte auch seine Schwierigkeiten, rechtzeitig einzutreffen. Sie drehten Franky gemeinsam ein paar Mal im Kreis und rannten los. Das Verwaltungsgebäude war ein halbes Labyrinth und man konnte hier Stunden mit Versteck- und Suchspielen verbringen. Sie spielten ein abgewandeltes Blinde-Kuh-Spiel, Franky trug ein Band über den Augen, aber er durfte auch „Marko“ rufen. Die anderen würden „Polo“ antworten. Es verstrich eine Stunde und noch eine, bis sie des Spiels müde wurden. Sie gingen ein paar Stockwerke nach oben in einen Gemeinschafts-Schlafsaal und lagen auf den alten Matratzen herum, während sie Bier tranken. 

„Mir ist schon ganz schwindlig“, sagte Benny mit einem leichten Lallen in der Stimme. 13 Jahre und zwei Starkbier sind eine ordentliche Mischung. Noch dazu die Aufregung, in alten Industriegebäuden Schabernack zu treiben. Sie hatten immer mal wieder ein paar Scheiben zerschlagen, hier und dort auch mit einem Filzstift die Wände besudelt. Franky hatte noch im Empfangssaal an die Wand geschrieben: 

„Fördert, was der Universalwürde dient, zerschmettert, was ihr schadet. Alles andere ist Verrat an der Menschheit.“

„Was ist denn das?“, kreischte Nikolai, während er eine Spritze von seinem Bett herunterwarf. Anscheinend waren sie nicht die einzigen, die hin und wieder im Verwaltungsgebäude waren. Die anderen kicherten. 

„Sollen wir eigentlich hier rauchen? Wir haben noch die Zigarren und auf das Dach sind es noch zehn Stockwerke“, sagte Benny. 

„Du faule Sau“, sagte Franky. 

„Vom Dach hat man eine perfekte Aussicht auf die Stadt“, sagte Martin. 

„Kommt, Gentlemen, lasst nach oben gehen“, gab Nikolai zum Besten. 

Weitere Glasscheiben und Krakeleien später waren sie auf dem Dach. Schnaufend traten sie die kaputte Tür zum Dach auf. Es war ein Wunder, dass sie sich hier nicht verlaufen hatten. Die ersten Male, als sie hier waren, war das auch passiert. Mit etwas Geduld fand man sich aber zurecht. Die abgesägte Spitze der Pyramide war mehrere Fußballfelder groß. Neben der Tür, die auf das Dach führte. War ein kleiner Raum, quadratisch mit Panzerglas. Oft schon hatten sie versucht, die Scheibe einzuwerfen, und sie immer nur zerkratzt. Im ganzen Gebäude gab es kein Licht, außer in diesem Raum. Es prangten rechteckige Lappen an der Decke und zwei Tunnel, die sich langsam absenkten, die genauso wie die Decke in der Form ein Hexagon ergaben. Anscheinend war der Raum vom Rest der Fabrik abgetrennt und noch in Betrieb. Er hatte wohl etwas mit den Funktürmen zu tun, die am Rande des Abgrunds standen. Weiter Richtung Westen stand starker Rauch am Himmel, tiefschwarz fraß sich der Rauch durch den sonst blauen Himmel. An der Quelle am Boden sah man recht große Flammen. 

„Was ist das?“, fragte Benny, der noch nie hier gewesen war. 

„Das kommt von der Überproduktion in der Erdölraffinerie oder dem Gas-Terminal, weiß nicht genau“, sagte Nikolai. 

„Es muss wohl billiger sein, das zu verbrennen, als irgendwas zu lagern.“ 

„Seit wir die Vereinigten Staaten von Europa sind, hat unsere ‚Sicherheitspolitik‘ einige Länder mit Quellen von fossilen Brennstoffen eingenommen“, sagte Benny und fügte hinzu:

„Dass wir aber vor unserer Stadt das Zeug einfach verbrennen, weil es spottbillig ist, wusste ich nicht.“ 

„Unter Universalwürde hätte es das nicht gegeben“, sagte Franky.

„Du mit deiner Universalwürde“, sagte Martin. 

„Universalwürde?“, fragte Nikolai. 

Martin sah erst Nikolai, dann Franky an und sagte: „Bitte nicht, das ist Humbug.“ 

„Ist es nicht, Universalwürde wird uns noch alle retten“, sagte Franky sichtlich getroffen. 

Martin zog aus dem Rucksack die letzten Biere und die Zigarren hervor: „Lasst uns mal anzünden und aufmachen, dann langsam auf die andere Seite laufen. Währenddessen kann euch Franky ja erzählen, warum er ein Problem mit Herr Strobel hat.“ 

Auf der anderen Seite angekommen, waren die drei anderen auch nicht viel schlauer. Franky las schon wenig, die anderen aber gar nicht. Hausaufgaben und Spiele, ein Buch, das nicht auf dem Lehrplan stand, kam für sie nicht in Frage. Was ist Sklavenmoral? Was ist Dasein? Was sind die drei Kränkungen der Menschheit? Warum ist das wichtig? Würde wurde also von Gott verliehen? Oder doch nicht, Gott war so ein abstraktes Konzept. Selbst Frankys Freunde hielten daran fest, obwohl sie das Christentum nicht praktizierten. Franky war von ihrer Heuchelei angewidert, aber zu betrunken, um sich davon die Brüderlichkeit, die in der Luft lag, kaputtmachen zu lassen. Wenn er schon seinen Freunden nicht erklären konnte, was er meinte, wie sollen dann Fremde ihn verstehen? Verstand er sich denn selber ganz? Was wusste er schon über das Leben? Wobei, früher heiratete man in seinem Alter schon. Der Mensch ist ein wirres Geschlecht, und Martin hatte Recht, er hätte nicht damit anfangen sollen. Als sie auf der anderen Seite ankamen, ließen sie die Füße vom Rand der Pyramide baumeln und pafften die Zigarre genüsslich, die letzten Biere hatten sie schon auf dem Weg getrunken und die Flaschen auf dem Boden zerdonnert. Die Aussicht auf die Stadt war tatsächlich einzigartig. Die Stadt hatte vier identische Malls. An der Mall, wo der Polizeieinsatz stattgefunden hatte, stiegen Rauchschwaden auf. Die Demonstranten hatten wohl Feuer gelegt. Vielleicht war der Moderationserlass doch ein Stück weit berechtigt, sagte Benny und wurde sogleich von den anderen gescholten. Wobei sich Martin zurückhielt und Nikolai wohl nur Franky beeindrucken wollte. 

„Ich habe die Idee. Jungs!“, rief Franky auf einmal, während er seinen Zigarrenstumpen in den Abgrund warf. 

„Hau raus mit der Idee“, sagte Nikolai und warf seinen Stumpen, der deutlich weniger abgeraucht war, auch in den Abgrund.

Franky war schon aufgestanden und sagte nun laut: „Jungs, wir holen Matratzen hoch und machen ein Rennen den Abgrund runter.“ 

Benny lief bleich an. Nikolai und Martin sahen sich an, dann wieder Franky, und sagten gleichzeitig: „Gentleman, Sie haben einen Deal.“

Auf dem Weg hinunter verirrten sie sich erst und das Hochschleppen der Matratzen dauerte weitaus länger, als sie gedacht hatten. Sie würden alle vier Ärger bekommen, wenn sie zu spät nach Hause kämen. Für ihr Alter galt allgemeine Ausgangssperre. Auch durften Erwachsene nur hinaus, wenn sie ein gutes Führungszeugnis hatten, draußen zu sein, ohne nachweisen zu können, dass man seine Arbeitsquote erfüllte. Oder einen schlechten Sozialkredit hatte, konnte je nach Laune der Polizei sogar eine Zwangsumsiedlung bedeuten. Mit Freiheit des Individuums hatte das nicht viel zu tun, aber der Moderationserlass hatte nun mal seine eigene Logik. Die Sonne war gerade am Untergehen, als sie wieder am Abgrund standen. Benny hatte gekniffen und war nach unten gegangen. Die anderen drei Halbstarken saßen am Abgrund und rutschten mit dem Hintern vor und zurück auf der Matratze, um den letzten Schluck Abstand zum Abgrund zu verlieren, um die Pyramide hinunterzurutschen. Da ging es los, Franky verlor zuerst das Gleichgewicht und fing auch gleich an, „Wooohooooo!“ zu brüllen, einige Sekunden später folgten die beiden anderen. Die Pyramidenwand war glatt und geschmeidig gegossener Zement. Die drei nahmen schnell an Fahrt auf und die Pyramide war schließlich ein Dutzend Stockwerke hoch. Ein Dreiviertel lang ging alles gut, sie grölten: „Gentlemen, wir sind die Könige der Welt!“ 

Bis ein fein eingelassener Lüftungsschacht kam, es war nur eine kleine Unebenheit.  Doch Nikolai flog hoch in die Luft und man hörte ein Klatschen, als er wieder auf der Pyramide aufkam, er schrie auf vor Schmerz und rutschte weiter hinunter. Franky und Martin sahen sich erschrocken an. An Lenken war kaum zu denken. Hoffentlich war das die einzige Unebenheit. Nikolai rollte umher. Er hatte wohl das Bewusstsein verloren. Er war still. Da erwischte es Martin, als er wieder auf der Pyramide aufschlug, war er sofort still. Nur Franky saß noch auf der Matratze die letzten Meter, das Ende der Pyramide näherte sich. Er schlug auf dem Boden auf und wurde von der Matratze runtergeschüttelt, überschlug sich ein paar Mal und stand auf. Er blutete an mehreren Stellen, doch nicht stark. Als er sich umsah, sah er keinen Benny, aber einen Martin, der in einer Blutlache lag, und einen Nikolai, der anscheinend doch nicht das Bewusstsein verloren hatte, und wenn, dann nur kurz. Er schüttelte den Kopf vor und zurück und saß im Schneidersitz da. Die Blutlache um Martin wurde schnell größer. Er blutete am Kopf. Franky schrie laut. Kein Benny und zwei verletzte Freunde. Die Sonne ging unter, das hieß, die Ausgangssperre war nun in Kraft und sie steckten in gewaltigen Schwierigkeiten. Nikolai kippte nach hinten und die Lache um Martin war schon einen halben Quadratmeter groß. Die letzten Sonnenstrahlen verloschen. 

Kapitel

Seiten

„Du bist vielleicht nicht an Krieg interessiert, aber Krieg ist an dir interessiert.“

Das Buch hat mir den Spiegel vorgehalten. Besonders gut gefällt mir auch die Aktualität der behandelten Themen die spielerisch mit der eingängigen Story erzählt werden. Mein bisheriges Lieblingsbuch von Paryon

Carlo Schuhmann

 

Et harum quidem rerum facilis est et expedita distinctio. Nam libero tempore, cum soluta nobis est eligendi optio cumque nihil impedit quo minus id quod maxime placeat facere possimus.

Ali Sayed on Code of art.

Nam libero tempore, cum soluta nobis est eligendi optio cumque nihil impedit quo minus id quod maxime placeat facere possimus.

Dj Porag on Code of art.

ÜBER DEN AUTOR 

Mein Zweitroman ist endlich veröffentlicht. Er spielt im selben Universum wie mein Erstroman jedoch viele Jahre später. Es ist eine wüste Welt in die man eintaucht doch es lohnt sich. 

Falls du mich Live hören willst, ich bin regelmmäßig im Podcast “Der Weltraumaffen” vertreten. In den letzten Monaten nur 14-tägig, der Podcast hat jedoch ein starkes Team und findet eisern JEDEN Sonntag um 18 Uhr statt.